Troja

Europäische Literatur beginnt nicht mit verbesserungswürdigen Übungsstücken, sondern mit lauttönenden Paukenschlägen. Homers Meisterwerke der epischen Dichtkunst, die Ilias und die Odyssee, sind Einschätzungen führender Altphilologen zufolge gegen Ende des achten vorchristlichen Jahrhunderts entstanden. Die zunächst in der Ilias berichteten Ereignisse von der Entführung Helenas durch den trojanischen Königssohn Paris und die sich daran anschließenden zehnjährigen Kampfhandlungen zwischen vom Dichter als Achaier bezeichneten Griechen und ihren Gegenspielern von der kleinasiatischen Westküste sind genauso Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der westlichen Zivilisation wie die im Rahmen einer Irrfahrt sich abspielenden Abenteuer von der Heimkehr des Odysseus und seiner Gefährten. Bisweilen erreichen Homers Angaben ein derart hohes Maß an Genauigkeit, dass es dem ebenso gewieften wie wohlhabenden Kaufmann und Autodidakten Heinrich Schliemann auf der Grundlage von Hypothesen des Briten Frank Calvert vor rund 150 Jahren möglich wurde, Troja an der nordwestlichen Mittelmeerküste des Osmanischen Reiches zu lokalisieren. Die danach von ihm vor Ort am Hügel Hisarlik begonnenen und von Schwierigkeiten im Umgang mit den Behörden vor Ort belasteten archäologischen Ausgrabungen waren, darüber besteht heute kein Zweifel, sicherlich mehr von ehrgeizigem Eifer als von exquisiter Expertise getragen. Die Arbeiten von Schliemann sind anschließend von verschiedenen Teams unterschiedlicher Nationalitäten mit Unterbrechungen bis in die Gegenwart fortgeführt worden.

Welche Erkenntnisse aus Dichtung und Feldforschung gewonnen werden können und welchen Schwierigkeiten sich die an der Auswertung teilnehmenden Experten für das Altertum gegenübersehen, darüber möchte im vorliegenden Beitrag einige Einblicke geben.

Homer als Hauptquelle und Gewährsmann

Von den im Hügel Hisarlik trenn- und damit unterscheidbaren wenigstens neun Siedlungsschichten, die ihrerseits wiederum zahlreiche Ausbaustufen aufweisen, ist die Schicht Troja VIIa bereits vor Jahrzehnten von Carl Blegen, als am wahrscheinlichsten mit der schriftlichen Überlieferung Homers übereinstimmend, identifiziert worden. Der das Leben in dieser menschlichen Ansiedlung zumindest vorläufig beendende, auf Brandvorgänge und Feuer aufgrund kriegerischer Ereignisse zurückzuführende Zerstörungshorizont – darin vorgefundene Geschossspitzen stützen diese Deutung – wird auf die Jahre um 1200 v. Chr. datiert. Damit ist eine Koinzidenz zu den Ereignissen gegeben, die mit den Begriffen der Ägäischen Wanderung und dem Seevölkersturm erfasst werden, wobei das zeitliche Zusammenfallen nicht zwingend einen ursächlichen Zusammenhang bedeuten muss. Die durch eine erheblich beeindruckendere Bauanlage einschließlich monumentaler Festungsmauer gegenüber Troja VIIa charakterisierte Ansiedlung Troja VI jedoch, die gegen 1300 v. Chr. ihr Ende fand, kann nicht das Troja der Ilias gewesen sein, da ein Erdbeben kausal für die hier gleichfalls vorhandenen Zerstörungen war.

Die Vorstellung, ein vernichtendes Feuer habe zum Untergang der Stadt am Eingang des Hellespont, wir bezeichnen die Meerenge heute als Dardanellen, beigetragen, war die griechisch-römische Antike hindurch lebendig. Der im 1. Jahrhundert v. Chr. wirkende römische Dichter Vergil hat in seinem epischen Meisterwerk Aeneis ausführlich die Flucht von Aeneas gemeinsam mit dem Sohn Askanios und dem Vater Anchises aus den brennenden Ruinen beschrieben. Aeneas habe dann nach Irrfahrten, die denen des Odysseus ähneln, als sie endlich die Küste Latiums erreichten, einen bedeutenden Beitrag zur Gründung Roms geleistet.

Doch zurück zu Homer. In einer Passage des neunten Buches der Ilias, in der dem sich stärkeren persönlichen Einsatz verweigernden griechischen Helden Achilleus das leuchtende Beispiel des Trojaners Meleagros entgegengehalten wird, erfährt man nach der Übersetzung von Johann Heinrich Voß:

„Jetzt beschwor die schöngegürtete Gattin den Helden                                                                    Unter Klagen, und nannte ihm all‘ das Leiden und Elend,                                                                Das die duldenden Menschen trifft in eroberter Feste:                                                                      Wie man die Männer erschlägt und die Stadt in Asche verwandelt,                                              (Hom. Ilias IX, 590-594.)

Der Schöpfer dieser Zeilen, Homer, ist dabei als Person nicht wirklich fassbar. Streng genommen wissen wir nicht einmal, ob Homer ein Individuum war oder ob der Name als Sammelbegriff für mehrere Dichterpersönlichkeiten anzusehen ist. Als Hauptschaffenszeit des Epikers wird jedenfalls die zweite Hälfte des achten vorchristlichen Jahrhunderts angesehen und als Herkunftsort eine der aufblühenden griechischen Kolonien an der kleinasiatischen Westküste genannt. Folgt man dieser Annahme, so bestand immerhin eine gewisse geographische Nähe zum Heimatort Hektors und Kassandras.

Er bewegte sich in den Traditionen der mündlichen Dichtung, die im englischen Sprachraum als oral poetry bezeichnet wird. Die als Sänger auftretenden Exponenten jener Kunstform haben ihre geschickt verknüpften, von formelhaften Wendungen getragenen Vorträge bei festlichen Anlässen aller Art über Jahrhunderte zum besten gegeben. Homer bildete insofern den Endpunkt einer Entwicklung, als dass es ihm ein Anliegen war, eine Verschriftlichung und  damit Kanonisierung einer nicht mehr rekonstruierbaren Variationsbreite vorzunehmen. Warum man sich im griechischen Kulturkreis des 8. Jahrhunderts v. Chr. an Ereignisse einer 500 Jahre zurückliegenden Epoche erinnerte, dafür bietet der Kulturwissenschaftler und Ägyptologe Jan Assmann folgende Erklärung an: „Der tiefe kulturelle und gesellschaftliche Bruch zwischen der mykenischen und der archaischen Gesellschaft ermöglicht die Konstitution einer „Vergangenheit“ im Sinne eines Heroischen Zeitalters. Zum Wesen der Vergangenheit gehört, daß sie vergangen, d. h. nicht fortsetzbar ist. Diese Vergangenheit bildet das Szenario für Geschichten, in denen die aristokratische Gesellschaft des 9. und 8. Jahrhunderts v. Chr. sich selbst erlebt und feiert. Denn sie adoptiert diese Geschichten als ihre eigene Vergangenheit und führt ihre Stammbäume auf die legendären Gestalten der Trojasage und entsprechender Stoffe zurück.“ (s. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 8. Aufl., 2018, S. 274)

Apokalypse in der Spätbronzezeit

Wie ist es also abseits heroischer Erwägungen um das Ende der Zeit bestellt, die am Anfang des zu überbrückenden halben Jahrtausends steht?

Zweifelsfrei ist es in den Jahren um 1200 v. Chr. am Ende der Spätbronzezeit zu einem nahezu vollständigen zivilisatorischen Abbruch im gesamten östlichen Mittelmeerraum gekommen. Nicht nur Troja wurde zerstört, auch die mykenische Hochkultur mit ihrem geographischen Zentrum auf der Peloponnes neigte ihrem unwiederbringlichen Ende zu. Von hier wurde die eingangs erwähnte Helena entführt, von hier stammte die Hauptmasse der gen Troja übers Meer fahrenden Achaier. Nicht nur die mykenischen Zentren in Mykene, Tiryns, Pylos, Theben und Midea wurden zerstört, auch der Gebrauch der Schrift, der seit den 1950er Jahren entzifferten sogenannten Linear B, ging verloren. Diejenigen Schriftdokumente in einer Vorform des späteren Griechisch, die sich, auf Tontafeln eingebrannt, erhalten haben, geben uns wichtige Einblicke vor allem in die Wirtschafts- und Verwaltungspraxis der mykenischen Palastkultur.

In jener uns so fernen Zeit der Wirren ging ebenfalls das einst mächtige Hethitische Reich unter und selbst der ägyptische Pharao Ramses III., der über die Ereignisse berichtet hat, konnte sich der marodierenden und brandschatzenden Fremden nur mit Mühe und unter Aufbietung aller ihm zu Gebote stehenden Kräfte erwehren. Der amerikanische Archäologe Eric H. Cline hat den größeren Kontext vor einigen Jahren beschrieben und gedeutet: „Doch wie beim Untergang des Weströmischen Reiches lässt sich das Ende der bronzezeitlichen Reiche im östlichen Mittelmeer nicht auf eine einzige Invasion oder Ursache zurückführen – die wahren Gründe waren so zahlreich wie die feindlichen Übergriffe. Viele der Angreifer, die 1177 v. Chr. für Unruhe sorgten, waren bereits während der Herrschaft von Pharao Merenptah 30 Jahre früher aktiv gewesen. Außerdem hatten mehrere Jahrzehnte lang Erdbeben, Dürren und andere Naturkatastrophen in der Ägäis und dem östlichen Mittelmeer gewütet. Allein deshalb kann man das Ende der Bronzezeit nicht einem einzigen Zwischenfall anlasten; vielmehr muss man es, wie bereits gezeigt, als Folge einer komplexen Reihe von Ereignissen betrachten, die die eng miteinander vernetzten Reiche der Ägäis und des Orients erschütterten und schlussendlich zum Zusammenbruch eines gesamten Systems führten. Nicht genug, dass zahllose Menschen starben und Paläste wie auch „normale“ Gebäude reihenweise einstürzten – darüber hinaus scheint es zu einem Abbruch oder zumindest zu einem deutlichen Rückgang in den Beziehungen zwischen den verschiedenen Königreichen der Region gekommen zu sein. Selbst wenn nicht alle diese Orte genau zur gleichen Zeit verwüstet wurden: Spätestens Mitte des 12. Jahrhunderts v. Chr. waren die einst international vernetzten Städte und Regionen auf sich selbst gestellt und von der einstigen Globalisierung des 14. und 13. Jahrhunderts v. Chr. war nichts mehr übriggeblieben.“ (s. Eric H. Cline, 1177 v. Chr. – Der erste Untergang der Zivilisation, 2018, S. 249)

Doch wie ist die Rolle Trojas selbst in dem sich abzeichnenden geschichtlichen Rahmen zu bewerten? Handelte es sich, wie der Althistoriker Frank Kolb zuerst in den 1980ern in einer wichtigen Veröffentlichung zur Urbanistik des Altertums geschrieben hat, nur um ein Provinznest? „Selbst Troja II, die eindrucksvollste Siedlung unter den verschiedenen Troja-Schichten, war nach dem archäologischen Befund nur eine Festung von etwa 110 m Durchmesser mit mehreren großen Hausanlagen im sogenannten Megarontypus und natürlich dem berühmten „Schatz des Priamos“. Es mag seinen Reichtum der Kontrolle der Handelswege an den Dardanellen verdankt haben. Troja VI und VIIa, welche chronologisch für eine Gleichsetzung mit dem homerischen Troja in Frage kommen könnten, waren armselige kleine Siedlungen und können erst recht keinen Anspruch auf eine Benennung  als Stadt erheben.“ (s. Frank Kolb, Die Stadt im Altertum, 2005, S. 45f.)

Kolb sollte in der Troja-Debatte, die mit dem 2005 verstorbenen Tübinger Prähistoriker Manfred Korfmann ausgefochten wurde, der vehementeste Antagonist sein und bleiben. Es ist indessen Korfmanns langjähriger Ausgrabungstätigkeit vor Ort in Troja zu verdanken, dass wir nicht mehr nur um die Existenz der von Kolb (s.o.) minimalistisch eingeschätzten Oberstadt wissen, sondern auch Kenntnisse und Wissen über die mit einem Graben geschützte Unterstadt erlangt haben. Sie mag schätzungsweise 5.000 bis 10.000 Einwohnern Platz zum Arbeiten und Leben geboten haben.

Von einer lebendigen Handelsstadt in strategisch bedeutsamer Lage zur Zeit der Handlung der Ilias zu sprechen, scheint von daher eher angezeigt zu sein. So betrachtet, liegt in Homers Dichtung sehr viel Sinn!

 

 

 

 

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