Am 20. März 2020 wird überall dort, wo Dichtung und Sprachkunst geschätzt und gewürdigt werden, an den 250sten Geburtstag Friedrich Hölderlins erinnert. Mal eher still, mal eher weihevoll und feierlich.
„An Hölderlin scheiden sich die Geister“, schrieb in den frühen 1920er Jahren der Literaturwissenschaftler Franz Zinkernagel als Herausgeber einer fünfbändigen kritisch-historischen Ausgabe der Werke des Künstlers. Goethe, dem der Endzwanziger 1797 seine Aufwartung machte, urteilte eher gönnerhaft und den Nachnamen leicht despektierlich verändernd über ihn: „Gestern ist auch Hölterlein bei mir gewesen, er sieht etwas gedrückt und kränklich aus, aber er ist wirklich liebenswürdig und mit Bescheidenheit, ja mit Ängstlichkeit offen. (..) Ich habe ihm besonders geraten, kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem einen menschlich interessanten Gegenstand zu wählen.“ Zu einer ganz anderen Bewertung ist schließlich Hugo von Hofmannsthal gelangt: „Er ging im Schwunge noch über Schiller hinaus, Goethe meinte, er gehe zu weit, (…) doch war es nicht so, es war nur ein Hinüber, ein neuer, unbefahrener Ozean, sein eigenes Gemüt. Ich rede von Hölderlin und seinem Hyperion (…)“
Der biographische Rahmen des ersten Lebensdrittels ist rasch abgesteckt. Aufgewachsen an den Ufern des Neckar, wurden die frühen Jahre in Lauffen und Nürtingen verbracht. Im Alter von nicht einmal zehn hatte Friedrich bereits den Tod von Vater und Stiefvater erleiden und hinnehmen müssen. Die von pietistischer Frömmigkeit erfüllte Mutter, der danach ein noch höheres Maß an Bedeutung für den Heranwachsenden zukam als ohnehin, strebte für diesen die Übernahme eines geistlichen Amtes als adäquate Berufsausübung an. Materielle Not für diese Wahl ist als Motivation auszuschließen, dafür gestaltete sich die wirtschaftliche Lage zu günstig, Gründe, die mit der Erbfolge zu tun gehabt hätten, scheiden ebenso aus, vielmehr werden die zeitgenössischen landesüblichen, eben schwäbischen Vorstellungen von einem ehrbaren Leben einen willkommenen Kristallisationspunkt darin gefunden haben. Also ging es 1788 zum Studium der Theologie nach Tübingen, wo die späteren Philosophen Schelling und Hegel zu seinen Kommilitonen am 1536 von Herzog Ulrich gegründeten, in einem alten Augustinerkloster beheimateten und eng mit der dortigen Universität verbundenen Evangelischen Stift zählten. Eine tiefe Freundschaft verband den jungen Hölderlin mit beiden. Während der fünf Jahre jüngere Schelling und der gleichaltrige Hegel hochberühmte Gestalten des deutschen Geisteslebens und prägende Vertreter des Idealismus wurden, verlief die Lebensbahn Friedrich Hölderlins so ganz anders, obwohl der Abdruck von vier Gedichten aus eigener Feder in Stäudlins Musenalmanach bereits zwei Jahre nach Beginn der Französischen Revolution eigentlich einen hoffnungsvollen Karrierestart bedeuteten.
Noch bevor das neue Jahrhundert Einzug hielt und das vergangene ablöste, sind die zwei Bände des lyrischen Biefromans „Hyperion“ publiziert worden. Neben äußeren Ereignissen der jüngeren Vergangenheit, die Bezug nehmen auf den griechischen Freiheitskampf gegen die Osmanen, ist es immer wieder die Götterwelt des antiken Griechenland, der darin eine besondere Bedeutung zukommt. Im Gegensatz zu Schiller ist diese antike Götterwelt bei Hölderlin keineswegs nur vorbildhafte Vergangenheit, sondern in ihrer Verbindung mythischer und religiöser Art etwas, das in die Gegenwart zu integrieren sein müsste. Hölderlins Geschichtsbild entpuppt sich damit als zyklisch und kreislaufhaft, indem er an die Rück- und Wiederkehr des Gewesenen glaubt, es zumindest als wünschenswert im Sinne eines ganzheitlichen Einsseins des Menschen mit der ihn umgebenden Natur hält. Hier begegnet ein erstaunlich modern anmutender Hölderlin, der im Zeitalter ökologischer Krisenhaftigkeit vielleicht nie aktueller war als gerade jetzt und dem es in jenen Jahren nicht um linearen Fortschritt zu tun gewesen ist. Doch wie war es generell um das Thema Antike bestellt?
Drei Wege zur Antike
Uns stehen heute grundsätzlich drei Wege offen, um Kenntnisse und Wissen über die Antike zu erlangen, egal ob man als Wissenschaftler oder interessierter Laie an das Thema herangeht. Einen dieser Zugänge zum klassischen Altertum eröffnet die Alte Geschichte als diejenige historische Disziplin, deren Inhalte hauptsächlich von der griechisch-römischen Antike bestimmt werden. Zu Lebzeiten Hölderlins befand sich das Fach Alte Geschichte in den Kinderschuhen, die ersten Steh- und Gehversuche wurden gerade unternommen. In englischer Sprache wurde 1774 von Oliver Goldsmith die zweibändige „The Grecian History: From The Earliest State to the Death of Alexander The Great“ vorgelegt. Im deutschen Sprachraum sind die Anfänge bei Arnold Hermann Ludwig Heeren und seinen 1793 bis 1796 veröffentlichten „Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmsten Völker der Alten Welt“ zu finden. Bis zum ersten wirklichen Meilenstein, den August Boeckh mit „Die Staatshaushaltung der Athener“ 1817 in zwei Bänden errichtet hat, sind dann noch einige Jahre vergangen. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sind also weder aus dieser Richtung noch aus den mit der Alten Geschichte aufs engste verknüpften Teildiszplinen der Numismatik (Münzkunde) und Epigraphik (Inschriftenkunde) allzu tiefschürfende Wissensbestände an ein an griechischer Geschichte interessiertes Publikum zu vermitteln gewesen.
Der zweite Weg, um sich Zugänge zur Antike zu eröffnen, er könnte als der kunstgeschichtliche oder klassisch-archäologische bezeichnet werden, folgte einem besser ausgeleuchteten Pfad. Schließlich hatte Johann Joachim Winckelmman 1755 die „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst“ und einige Jahre später sein Hauptwerk die „Geschichte der Kunst des Alterthums“ veröffentlicht. Hölderlin, das weiß man genau, war Winckelmann-Leser. Damit war ihm Wickelmannsches Gedankengut von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ wohlvertraut wie auch die Einsicht des 1768 in Triest früh Verstorbenen, dass eine Voraussetzung für die Erschaffung der unübertroffenen Kunstwerke in dem Umstand begründet liegen würde, dass die Griechen in freien Gemeinwesen lebten. Heute würden wir eine derart verallgemeinernde Aussage so nicht mehr treffen, doch was für ein Unterschied zum seinerzeit unter herzoglicher Knute befindlichen Württemberg! Der Klassizismus in der Architektur wie die deutsche Klassik überhaupt wären ohne Winckelmanns Ideen- und Gedankengut wohl gar nicht erst entstanden, sein Einfluss auf den im wertneutralen Sinn Nicht-Klassiker Hölderlin kann kaum überschätzt werden. Das Wilde und Ursprüngliche neben dem Dionysischen waren jedoch neue Facetten, die er dem bereits bestehenden Bild von den alten Griechen hinzuzufügen wusste.
Den philogischen Weg über das Erlernen der alten Sprachen Altgriechisch und Latein darf man als die dritte Möglichkeit ins Auge fassen, sich Kenntnisse und Wissen über das klassische Altertum anzueignen. Wie war es nun um derartige Fähigkeiten bei unserem Protagonisten bestellt? Hölderlin, der im Dezember desselben Jahres 1793, als Luwig XVI. in Paris guillotiniert wurde, in Stuttgart sein Konsistorialexamen zum Abschluss der theologischen Studien erfolgreich ablegte, verfügte über ganz außerordentliche altsprachliche Befähigungen. Nicht nur die Epiker Homer und Hesiod, die Tragiker Sophokles, Aischylos und Euripides, die Lyriker wie den hochgeschätzten Pindar oder die Philosophen, wie den verehrten Platon, sie alle konnte er im Original lesen und verstehen. Mehr noch: Hölderlin ist selbst als Übersetzer hervorgetreten. Die Antigone und König Ödipus sind von ihm 1804 in die deutsche Sprache übertragen worden. Ein geistliches Amt hingegen ist trotz vorliegender Examina nie ausgeübt worden.
Was bleibt
Wohl kaum die Erinnerung an die zum Zwecke des Broterwerbs verschiedentlich ausgeübten Ämter als Hofmeister. Viel eher denken wir da schon an das leider nur fragmentarisch hinterlassene Bühnenstück „Der Tod des Empedokles“. Daneben natürlich an den „Hyperion“, der es als belletristisches Werk immerhin in das alle Epochen umfassende Listing der Zeit-Bibliothek der 100 Bücher geschafft hat, wie auch an die Co-Autorenschaft am „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“, das vorhandene philosophische Befähigungen und Neigungen deutlich werden lässt. Unsterblich geworden ist Hölderlin indes durch seine vorwiegend an den antiken Formen der Ode, Hymne und Elegie ausgerichtete Lyrik, deren sprachliche Schönheit vers-, sogar strophenweise in ihren gelungensten Beispielen in ihrer Wirkung einer Offenbarung nahe kommt. Wenn man bereit ist nachzuvollziehen, was vielen seiner Zeitgenossen schon aufgrund der unzureichenden Publikationslage nicht möglich war. Insofern ist Hölderlin nicht als Künstler späten Ruhms, sondern als einer des Nachruhms anzusprechen. Es galt ihn wiederzuentdecken, was trotz der großen Anerkennung durch Friedrich Nietzsche wesentlich dem 20. Jahrhundert vorbehalten war.
Um einen besseren Eindruck davon zu vermitteln, was ich meine, möchte ich auf das von Bruno Ganz vorgetragene Gedicht „Der Nekar“ verweisen: https://www.youtube.com/watch?v=9VZ16FbmfnM
Room with a view
Ziemlich genau die Hälfte seines Lebens von 1807 bis zu seinem Tod am 7. Juni 1843 hat Friedrich Hölderlin in psychisch stark angespannter Situation verbracht. Nur von phasenweiser geistiger Verwirrung zu sprechen, wäre wohl untertrieben. Daher bedurfte er ständiger Pflege und Zuwendung, die ihm die Schreinermeisterfamilie Zimmer in Tübingen für die Dauer von 36 Jahren fürsorglich angedeihen ließ. Im ersten Stockwerk des einst der mittelalterlichen Stadtmauer zugehörigen Turmes, heute als Hölderlinturm bekannt, konnte der zu Lebzeiten oft verkannte Poet von seinem kreisrunden Zimmer aus den Blick ins Offene schweifen lassen. Unter sich das Plätschern und Murmeln des Neckar, dort wo alles begann…