Die Industrielle Revolution in Deutschland

Als Siamesische Zwillinge der deutschen Wirtschaftsgeschichte hat der im Jahr des Sturms auf die Bastille in Reutlingen geborene Ökonom Friedrich List die Gründung des Zollvereins und den Beginn des heimischen Eisenbahnbaus bezeichnet. Während der 1834 gegründete Zollverein die Idee des Freihandels im Landesinneren verwirklicht sehen wollte, ist der Eisenbahnbau nach der erfolgreichen Premierenfahrt des Adler im Dezember 1835 in Franken im weiteren Verlauf des Jahrhunderts zu einem zentralen Bestandteil des aus Eisen- und Stahlindustrie, Steinkohlenbergbau und Maschinenbau bestehenden schwerindustriellen Führungssektors hierzulande geworden. Einmal als Leitbranche etabliert, hat speziell der Maschinenbau bis heute nichts an Bedeutung eingebüßt und repräsentiert – am Umsatz 2018 gemessen – nach dem Kraftfahrzeugbau und noch vor dem Chemisch-pharmazeutischen Bereich unbestritten die zweitwichtigste Industriebranche der Gegenwart in Europas leistungsstärkster Volkswirtschaft.

Doch wo sind die Anfänge jenes zumeist als revolutionär bezeichneten Prozesses zu verorten, den wir im weiteren Verlauf Industrialisierung nennen, und woher kamen die benötigten Arbeitskräfte? Warum ist in diesem Zusammenhang überhaupt von einer Industriellen Revolution die Rede und welche Bedeutung hat sie?

Der nachholenden Entwicklung auf dem Gebiet des seit 1815 bestehenden Deutschen Bundes ging diejenige, die England erlebt hat, dabei um mehrere Jahrzehnte voran. Zum take-off, einem beschleunigten Abheben, in der Theorie der in vorgezeichneten Stadien ablaufenden Modellvorstellungen des US-amerikanischen Ökonomen und Wirtschaftshistorikers Walt W. Rostow kam es dort bereits in den frühen 1780er Jahren, und zwar in einem anders gelagerten Bereich, dem der Konsumgüterindustrie. Innerhalb der in den westlichen und östlichen Midlands entstehenden Textil- und Bekleidungsindustrie sollte sich die Baumwollindustrie, die sich auf einen stetig über den Hafen von Liverpool abgewickelten Import des begehrten Rohstoffs verlassen konnte, zur Leitbranche entwickeln. Die Gründe dafür liegen offen zu Tage. Durch Nutzung der Dampfmaschine als Antriebsquelle für automatische Webstühle und Spinnmaschinen konnte das Produktionsvolumen erheblich erhöht werden. Im Ergebnis wurden Arbeitsgeräte wie die zunächst rein durch Muskelkraft betriebene Spinning Jenny nunmehr sukzessive von technologischen Innovationen ersetzt. Mit einer zeitlichen Verzögerung von sechzig Jahren erleben wir den take-off schließlich im deutschsprachigen Raum.

Die Bedeutung der Industriellen Revolution

Insbesondere die mit quantifizierenden Methoden arbeitenden Kliometriker haben jedoch mit Verweis auf zu geringe Wachstumsraten des Nettosozialprodukts pro Kopf der Bevölkerung den sich abzeichnenden Wandel im fraglichen Zeitraum nicht revolutionär, sondern evolutionär deuten wollen. In diesem Sinne hat sich beispielsweise der Ökonom, Wirtschaftshistoriker und Nobelpreisträger Douglass North in „Theorie des institutionellen Wandels“ geäußert: „Die Zeit, die wir als Industrielle Revolution zu bezeichnen gewöhnt sind, war nicht der radikale Bruch mit der Vergangenheit, für den wir sie manchmal halten.“ (s. S. 167)

Derart formulierte Einschränkungen sind natürlich nicht nur auf das Ziel hin ausgerichtet, bestehende und fraglos vorhandene begriffliche Unschärfen zu erfassen. Daher hat sich diese Denkschule als sehr einflussreich erwiesen, und sie ist es noch. Stellvertretend für in der heutigen Forschung nach wie vor bestehende unterschiedliche Auffassungen in der Beurteilung des Tempos der industriellen Entwicklung wird deshalb auf sie verwiesen.

Verlässt man jedoch den verdichteten Zeitansatz der mathematisch-statistisch orientierten Wirtschaftsgeschichte und nimmt eine universalhistorische Deutungsperspektive ein, wie es etwa Werner Conze in den 1950er Jahren getan hat, erscheint der Stellenwert der Veränderungen in einem anderen Licht. Der deutsche Historiker Conze hat in diesem Sinne einen großen Dreischritt primärer weltgeschichtlicher Epochen herausgearbeitet. Danach hat der Mensch innerhalb der ersten vorgeschichtlichen und damit schriftlosen Stufe der Entwicklung über Jahrtausende hinweg in naturhafter Gebundenheit verbracht. Der jagende und sammelnde, durch die Wälder umherstreifende Wildbeuter entspricht diesem Bild. Das zweite Stadium in dieser Konzeption setzt dann mit dem Auftreten der Hochkulturen im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung an und dauert schließlich unter Einbeziehung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert an. Die danach seit dem späten 18. Jahrhundert von Europa ausgehenden wissenschaftlich-technischen, ökonomischen und politisch-sozialen Revolutionen haben endlich die dritte Weltepoche unserer neuesten Zeit, in der wir uns – global gesehen – immer noch befinden, eingeleitet. Aus dieser Makroperspektive nimmt die Industrielle Revolution unabhängig vom konkreten Entwicklungstempo in ihrer Relevanz und Bedeutung für die gesamte Geschichte der Menschheit eher den ihr zukommenden Stellenwert ein. Selbst und gerade dann, wenn es um die von ihr ausgelösten zerstörerischen Auswirkungen für die Umwelt geht.

Fabrik, Manufaktur und Verlag

Als typischer Ort der neuen maschinengestützten Arbeitsweise entsteht die Fabrik. In ihr werden zentralisiert in einer unterschiedlichen Anzahl von arbeitsteiligen Produktionsprozessen von freien Lohnarbeitern unter der Oberleitung eines Unternehmers auf neuartige Weise Erzeugnisse hergestellt, die sich auf regionalen und überregionalen Märkten, in der Absicht Gewinne zu erzielen, vertreiben lassen.

Noch zu Zeiten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ist im Jahr 1784 von dem Pionier Johann Gottfried Brügelmann im südlich des Ruhrgebiets gelegenen Städtchen Ratingen die erste Betriebstätte dieser Art hierzulande errichtet worden. Die Namensbezeichnung Cromford verweist dabei auf Verbindungen in den englischen Sprachraum.

In der dogmatischen Sichtweise von Karl Marx hätte sich Cromford innerhalb der von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum letzten Drittel des 18. Jahrhunderts dauernden Manufakturepoche aus der vorgezeichneten Stufenfolge Manufaktur>Fabrik entwickeln müssen. Sehr viel differenzierter hat hingegen der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler die Genese der Fabrik erklärt: „Zunächst einmal scheint es realhistorisch geboten zu sein, fünf Ursprungsformen der modernen Fabrik zu unterscheiden: Neben dem großen Handwerksbetrieb des Zunftmeisters (für Papiererzeugung, Buchdruck, Optikwaren, Porzellan, Möbel, Maschinenbau) gab es die unzünftige mechanische Werkstatt (z. B. als Gießerei oder Eisenhütte), neben dem Verlagsbetrieb als Endstation dezentralisierter Produktionsabläufe existierte die Manufaktur als zentralisierte Werkstätte (für Woll-, Baumwoll-, Seidenherstellung, Kattundruck, Waffen, Messer, Kutschen) und schließlich trat zu ihnen die frühe Fabrik selber als jüngster, unmittelbarer Vorläufer des entwickelten Industrieunternehmens. Häufig bestanden diese Betriebe gleichzeitig nebeneinander, da die Entwicklung des gewerblichen Großbetriebs auf mehreren Gleisen parallel gelaufen ist. Alle konnten sie, wie viele von ihnen auch scheitern mochten, an die Schwelle zur modernen Fabrik heranführen. Einen besonders begünstigten Entwicklungspfad für eine Betriebsform scheint es bis ins frühe 19. Jahrhundert nicht gegeben zu haben. Allenfalls haben gewerblich weniger entwickelte Regionen durch ihr Defizit an spezialisierten Werkstätten und Marktbeziehungen die Tendenz zum größeren Unternehmen, das mehrere Produktionsstufen kombinierte, gefördert. Insofern bildete dort die Fabrik eine institutionelle Reaktion auf den sozioökonomischen Entwicklungsstand zurückgebliebener Gegenden.“ (s. H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1700-1815. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära, Bd. I, München 1989, S. 114f.)

Regionale Entwicklungen

Auch nach Gründung des Kaiserreichs 1871 gab es Gegenden, die von der Industrialisierung weitestgehend unberührt geblieben sind wie etwa Schleswig-Holstein, Mecklenburg oder Ostpreußen. Andererseits hat die neuartige, auf einer Vielzahl technischer Erfindungen beruhende industrielle Veränderung in bestimmten Regionen besonders intensiv Einzug gehalten. Dies gilt etwa für das Königreich Sachsen bereits für das erste Drittel des 19. Jahrhunderts und natürlich für das teilweise der Rheinprovinz und teilweise Westfalen zugehörige Ruhrgebiet, das nach dem Wiener Kongreß 1814/15 Preußen zugeschlagen wurde.

Ein stetig zunehmendes Bevölkerungswachstum ist ein Kennzeichen jener Zeit. Für Deutschland insgesamt um das Jahr 1700 sind rund 16 Millionen Einwohner festgestellt worden, einhundert Jahre später sind es um das Jahr 1800 bereits ca. 24,5 Millionen Menschen gewesen. Für die bereits erwähnte Region Ostpreußen ergibt sich in demselben Zeitraum durch Zunahme von 400.000 auf 931.000 Einwohner mehr als eine Verdoppelung. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gewinnt der demographische Wandel zusehends an Dynamik. Wie immer in der Geschichte ist Auswanderung eine Antwort auf derartige Herausforderungen gewesen. Waren zwischen 1820 und 1830 jährlich 3000 bis 5000 Personen als Emigranten verzeichnet worden, so stieg die Zahl dieses Personenkreises nach der schwerwiegenden Agrarkrise von 1847 auf 80.000 an.

Um die andere Antwort seitens der ländlichen Bevölkerung im Sinne einer Binnenwanderung in wirtschaftlich chancenreichere Gegenden überhaupt erwägen zu können – Freizügigkeit für Arbeitnehmer wie heute in der Europäischen Union war unbekannt -, bedurfte es zunächst weitreichender gesellschaftspolitischer Maßnahmen. Sie haben ihren anerkannten Ausdruck in dem Reformwerk des Freiherrn vom Stein gefunden, in dessen Zeit als Minister vom September 1807 bis zum November 1808 eine Reihe einschneidender Verordnungen ins Werk gesetzt worden sind. „So das mit der Aufhebung der Erbuntertänigkeit die Bauernbefreiung einleitende „Edikt, den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner betreffend“  vom 9. Oktober 1807, das die Sozialstruktur des flachen Landes entscheidend ändern sollte (…). Bisher war der ostelbische Bauer als Lassit dem Gutsherrn dienst- und steuerpflichtig gewesen; der von ihm bewohnte Hof gehörte ihm nicht, sondern war ihm nur zur Nutzung überlassen als Entgelt für seine im übrigen unbezahlten Dienste. Nun sollte aber durch dieses Edikt (…), das die Privatbauern, das heißt das Gesinde und die Hintersassen der Gutsherren betraf, in den verbliebenen vier alten preußischen Provinzen eine grundlegende Reform der bäuerlichen Verhältnisse (Aufhebung der Erbuntertänigkeit, Freiheit vom Gesindedienst, Recht des Abzugs von der Scholle) bewirkt und gegen die Fronde des grundbesitzenden Adels ein freier Bauernstand geschaffen werden. Auch Bürgerlichen wurde der Erwerb von Adelsgütern freigegeben; die ständischen Schranken wurden mit der Freiheit des Güterverkehrs weitgehend durchbrochen und die alte ständische Dreiteilung (Adel – Bürger – Bauern) mit ihrer kastenartigen Abkapselung beseitigt. (…) Das Ziel war der Aufstieg eines künftigen Bauernstandes, indem die Reste des alten Feudalstaates aufgehoben wurden. Die Kehrseite war die, dass das gutsherrlich-bäuerliche Verhältnis auf eine Geldforderung reduziert war und die bisherige Fürsorgepflicht der Gutsherren für ihre Gutsuntertanen aufgehoben wurde; die Erbuntertänigkeit hatte auch ein patriarchalisches Band bedeutet, das oft sehr segensreich gewirkt hatte. (…) Der entscheidende Satz des Edikts mit Geltung für die ganze Monarchie bezog sich auf den 11. November 1810 (Martinitag), dem damals üblichen Endtermin für Dienst- und Pachtverträge in der Landwirtschaft: „Mit dem Martinitag eintausendachthundertzehn hört alle Gutsuntertänigkeit in unseren sämtlichen Staaten auf. Nach dem Martinitag 1810 gibt es nur noch freie Leute.“ (s. H.-J. Schoeps, Preussen. Geschichte eines Staates, Berlin 1995, S. 119 f.)

Das bedeutete natürlich nicht das Ende der Existenz der ostelbischen Rittergüter und des dort beheimateten Typus des Junkers. Wer aber wollte, der konnte ab jetzt in den allmählich aufstrebenden mehr industriell geprägten Regionen des Westens versuchen, sein Auskommen als Fabrikarbeiter zu finden. Die Arbeit an sich war schließlich hinreichend schwer und gefahrenvoll genug, Lärm und Schmutz dominierten den grauen Alltag, Arbeitsschutz galt vielen als Fremdwort.

Den Unternehmern stand andererseits nunmehr ein erheblich vergrößerter Pool an Arbeitskräften zur Verfügung, – um 1800 wies das traditionelle Handwerk mehr als 1,2 Millionen Beschäftigte auf, in der Landwirtschaft waren jedoch zwischen 60 und 62 Prozent aller Beschäftigten tätig – die kaum Bedingungen stellen und mit Minimallöhnen abgespeist werden konnten. Die Arbeiterklasse musste ihr Bewusstsein erst noch entwickeln. Für ihre Angehörigen waren nicht mehr die Agrarkrisen alten Typs, sondern konjunkturelle Zyklen wie sie sich in den 1870er Jahren in der Abfolge Gründerboom und Gründerkrach dann Bahn brachen daseins- und existenzbestimmend geworden.

Bildnachweis©derblogger

Der kommende Beitrag wird sich mit dem Liberalismus und liberalen Ideen im 19. Jahrhundert beschäftigen!

 

 

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