„Ich will die Einheit nicht anders als mit Freiheit, und will lieber Freiheit ohne Einheit als Einheit ohne Freiheit. Ich will keine Einheit unter den Flügeln des preußischen oder des österreichischen Adlers.“
Karl von Rotteck, Staatswissenschaftler, Historiker und liberaler Politiker bei einer Veranstaltung 1832 in Badenweiler.
Einleitung
Abseits der in Berlin und Wien ausgeübten großen Staatsgeschäfte hat Karl von Rotteck im Großherzogtum Baden gelebt und gewirkt. In seinem Denken kommen die Sehnsüchte und Hoffnungen eines liberal eingestellten, mit der Wahrnehmung öffentlicher Ämter betrauten südwestdeutschen Bildungsbürgers des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck. Einem Liberalen war es seinerzeit vor allem darum zu tun, den Einzelnen vor als ungerechtfertigt wahrgenommenen Einschränkungen, auch vor staatlichen Eingriffen willkürlicher Natur, zu schützen. Freiheit war das hohe Gut, um das es ging. Die Wortherkunft aus dem Lateinischen verweist in die römische Antike. Ein libertus, ein Freigelassener, war dort jemand, der die Fesseln der ihn niederdrückenden Sklaverei abgeschüttelt und mit einem grundlegend verbesserten Rechtsstatus sein Leben selbstverantwortlich in die Hand nehmen konnte.
Innerhalb welchen historischen Rahmens es von Rotteck und anderen Gleichgesinnten möglich war, ihre Ideen zu entwickeln, möchte ich zunächst darlegen.
Als der Napoleonische Spuk vorbei war
Ein Ergebnis der Feldzüge Napoleons quer durch Europa ist die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 gewesen. Neun Jahre später war der Spuk vorbei und als Antwort auf die neu sich stellende Frage nach der staatlichen Existenzform wurde der Deutsche Bund gegründet. Entgegen den Idealvorstellungen eines Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Ludwig Jahn oder Ernst Moritz Arndt hat es zu einem Nationalstaat nicht gereicht, es ist kein Bundesstaat geworden, aber immerhin ein Staatenbund. Das dafür entscheidende Gründungsdokument ist die Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815, die partiell offizieller Bestandteil der einen Tag später unterzeichneten Wiener Kongreßakte geworden ist. So erklärt sich auch die Vielzahl der neben Preußen und Österreich verantwortlichen Garantiemächte Großbritannien, Frankreich, Spanien, Schweden, Portugal und Russland. Sämtliche politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen des nächsten halben Jahrhunderts – erst 1866 erfolgte die Auflösung des Deutschen Bundes – ereigneten sich vor dem Hintergrund dieses Verfassungsvertrages. Als liberales Element ist die darin enthaltene Aufforderung an die 41 souveränen Mitgliedsstaaten, eigene landständische Verfassungen ins Leben zu rufen, verstanden worden. Neben anderen sind Baden unter Mitwirkung des bereits vorgestellten Karl von Rotteck, Württemberg und Bayern dem nachgekommen, Preußen unter Mißachtung eines diesbezüglichen königlichen Versprechens und Österreich bis zur 1848er Revolution allerdings nicht. Einziges gemeinsames Organ war mit dem Bundestag keine Versammlung mit aus Wahlen hervorgegangenen Abgeordneten, sondern ein in Frankfurt am Main tagender ständiger Gesandtenkongress.
Wie war es um die Lebensbedingungen der Menschen und ihre Freiheiten im Deutschen Bund bestellt? Seit im Jahr 1819 der russische Generalkonsul und Schriftsteller August von Kotzebue von dem Theologiestudenten und Burschenschafter Karl Ludwig Sand ermordet wurde und in der Folge die Karlsbader Beschlüsse verabschiedet worden sind, legte sich ein Klima der Repression und Reaktion wie Mehltau übers Land. Der Schattenwurf der von dem österreichischen Außenminister und späteren Staatskanzler Metternich initiierten Restaurationspolitik verdüsterte jene Hoffnungen, die auf politische Modernisierung und Partizipation gerichtet waren. Zahlreiche Maßnahmen zur Bekämpfung liberaler und nationaler Tendenzen waren damit verbunden. Die Universitäten wurden überwacht, liberal und national gesinnte Professoren wurden entlassen und mit Berufsverbot belegt, die Burschenschaften wie die öffentliche schriftliche Meinungsfreiheit verboten, die Presse zensiert. Welche Auswirkungen die Karlsbader Beschlüsse etwa auf die Existenzbedingungen eines Dichters hatten, davon berichtet der Exilant Heinrich Heine 1844 im Vorwort eines seiner bekanntesten Texte: „Das nachstehende Gedicht schrieb ich im diesjährigen Monat Januar zu Paris, und die freie Luft des Ortes wehete in manche Strophe weit schärfer hinein, als mir eigentlich lieb war. Ich unterließ nicht, schon gleich zu mildern und auszuscheiden, was mit dem deutschen Klima unverträglich schien. Nichtsdestoweniger, als ich das Manuskript im Monat März an meinen Verleger nach Hamburg schickte, wurden mir noch mannigfache Bedenklichkeiten in Erwägung gestellt. Ich mußte mich dem fatalen Geschäfte des Umarbeitens nochmals unterziehen (…) (s. H. Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, Stuttgart 1984, S. 3) Staatliche Zensur wirkte hier als nachhaltiger und langandauernder Zugriff auf die künstlerische Freiheit.
Die Wurzeln
Der Liberalismus hat nie ein in sich geschlossenes Weltbild angeboten, er beinhaltet daher nicht nur eine Idee oder Vorstellung davon, wie etwas zu sein hat, sondern eine Vielzahl von Ideen. Sie alle kreisen um die Eckpunkte Individuum, Gesellschaft, Markt und Staat und in welchem zu- oder abträglichen Beziehungsgeflecht sie sich untereinander befinden. Neben dem Konservativismus und dem Sozialismus ist der Liberalismus zu einer der drei bedeutenden Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts geworden. Die Anfänge liberalen Denkens gehen allerdings sehr viel weiter zurück und wurzeln im aufklärerischen Fortschrittsoptimismus. Die Vorstellung, dass es sich bei den Gütern Freiheit, Leben und Eigentum um elementare Menschenrechte handeln würde wie auch, dass eine Verfassung dazu bestimmt sei, die naturgegebenen Rechte des Bürgers vor der Allmacht des Staates zu schützen, geht auf John Locke zurück. Die Überlegungen Lockes, die er 1689 in dem Text „Two Treatises of Government“ verschriftlicht hatte, sind durch die Gedanken Charles de Montesquieus ergänzt worden. Montesquieu hat sechs Jahrzehnte später 1748 in „De L´Esprit des Lois“ die Bedeutung der Verankerung der Gewaltenteilung in einer Verfassung hervorgehoben, da dadurch der Schutz der naturgegebenen Rechte vor Machtmißbrauch und Machtkonzentration besser gewährleistet wäre. Die wirtschaftsliberale Basis ist schließlich von dem schottischen Begründer der klassischen Nationalökonomie Adam Smith 1776 in „The Wealth of Nations“ gelegt worden. Smith zufolge sind Arbeitsteilung und Spezialisierung die Quelle von Wohlstand und Fortschritt, die wiederum in einer freien Handel und freien Wettbewerb begünstigenden Gesellschaft besser gedeihen würden. Die zugrunde liegende und auch die Belange der wirtschaftlich Schwächeren berücksichtigende moralische Richtschnur, die oft übersehen wird, wird beispielsweise deutlich an den ebenfalls im „Wohlstand der Nationen“ enthaltenen Bemerkungen zum Thema Existenzlohn (engl. living wage).
Revolutionsjahr 1848
Das mit dem Wiener Kongreß 1814/15 begründete System des Gleichgewichts der fünf europäischen Großmächte hatte zugegeben seine unbestrittenen Vorzüge, denn für die kommenden Jahrzehnte waren militärische Auseinandersetzungen in Form von Kriegen untereinander von der Tagesordnung gebannt. Es gelangte jedoch dort an seine Grenzen, wo infolge von Missernten ab Mitte der 1840er Jahre die soziale Not vielerorts immer bedrückendere Ausmaße angenommen hat. Von Unterernährung und Hunger aufgrund gestiegener Lebensmittelpreise gepeinigt, begehrten 1844 die Weber in Schlesien auf, in Frankreich waren es die Aufstände der Seidenweber in Lyon 1834 und 1848, die zudem auf eine Gesellschaft im Umbruch ins fortschreitende Industriezeitalter verweisen. Die traditionelle Heimarbeit per Hand im dezentralisierten Verlagssystem traf immer häufiger auf die effizientere Arbeitsorganisation der neuartigen maschinengetriebenen Fabrik. Das damit einhergehende Konfliktpotential war einhundert Jahre zuvor noch vollkommen unbekannt.
Am 23. Februar 1848 waren es Arbeiter und Studenten in Paris, die die revolutionäre Bewegung mit dem Ziel, die Monarchie in eine Republik umzuwandeln, anführten. Sie waren insofern erfolgreich, als dass der seit 1830 regierende Bürgerkönig Louis Philippe zur Abdankung gezwungen werden konnte. Nach 1792 konnte in Frankreich zum zweiten Mal die Republik ausgerufen werden.
Nur die beiden Flügelmächte der Pentarchie, Großbritannien und Russland, waren imstande sich dem revolutionären Geschehen, das sich darauf in Europa Bahn brach, zu entziehen. Das Gebiet des Deutschen Bundes mit schweren Barrikadenkämpfen in der Donaumetropole Wien und der preußischen Hauptstadt Berlin neben Agrarunruhen in Südwestdeutschland wurde nachhaltig heimgesucht, so dass der auch als Bundesversammlung bezeichnete Bundestag sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als vom deutschen Volk eine Nationalversammlung wählen zu lassen und im gleichen Atemzug die Karlsbader Beschlüsse nebst anderen repressiven Ausnahmegesetzen aufzuheben.
Die erste Sitzung der auch als Paulskirchenparlament bekannten Nationalversammlung hat am 18. Mai 1848 in Frankfurt am Main stattgefunden. Vornehmste Aufgabe der 805 zumeist bürgerlichen Abgeordneten war die Ausarbeitung einer Reichsverfassung. Ihr erster Entwurf geht wesentlich auf den einst zusammen mit den Gebrüdern Grimm zu den Göttinger Sieben zugehörigen liberalen Bonner Staatswissenschaftler und Historiker Friedrich Christoph Dahlmann zurück. Insgesamt 274 Abgeordnete der Nationalversammlung zählten zu den Rechtsliberalen und 104 zu den Linksliberalen, was in der Summe 47 Prozent der Gesamtzahl bedeutet und einen Eindruck von der vorherrschenden Strömung verschafft.
Allein, die Reichsverfassung wurde von den wichtigsten Einzelstaaten des Deutschen Bundes im folgenden Jahr nicht angenommen, der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. weigerte sich im März 1849 die ihm angetragene Kaiserkrone aus den Händen von Kaufleuten und Intellektuellen entgegen zunehmen. Kurz darauf löste sich die Nationalversammlung selbst auf, der Wind hatte sich wieder gedreht. Fast glaubt man aus den Schlössern und Kabinetten der alteingesessenen adligen Machthaber die Sätze zu vernehmen, die der italienische Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa in seinem Roman Il Gattopardo mit Blick auf zeitgenössische Verhältnisse in Italien formuliert hat: „Sind nicht auch wir dabei, so denken sich die Kerle noch die Republik aus. Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist nötig, dass alles sich verändert.“
Die letzten Ausläufer des philosophischen Idealismus mit seiner Maßgabe, dass Ideen die Fundamente von Wirklichkeit, Wissen und Moral bilden würden und die Romantik mit ihrer Hinwendung zu einer als vorbildlich empfundenen mittelalterlichen Vergangenheit, zu religiöser Schwärmerei und einem Hang zum Irrationalen wichen zusehends kaltem Materialismus und Realismus. Die Signatur der Zeit ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine andere geworden. Die Parlamentarier der Nationalversammlung sind von daher nicht als Gescheiterte zu betrachten, vielmehr haben sie, was die nationale Einigung betrifft, antizipiert, was zwei Jahrzehnte später ohnehin geschehen ist.
Im Kaiserreich
Waren die rechtsliberalen Gruppierungen 1848 noch nach den Gaststätten, in denen sie tagten, Casino, Landsberg und Augsburger Hof benannt worden, wie auch die Linksliberalen nach ihren Gaststätten Württemberger Hof und Westendhall hießen, so ist es 1861 zur Gründung der Deutschen Fortschrittspartei gekommen. Ihr rechter Flügel hat sich 1866 als Nationalliberale Partei abgespalten. Gemeinsam mit einigen kleineren Parteien ähnlicher politischer Ausrichtung konnten sie bei den ersten Reichstagswahlen 1871 von insgesamt 382 Abgeordnetensitzen 202 für sich verbuchen, also mehr als 50 Prozent.
Ihre Gemeinsamkeiten hat der Historiker Thomas Nipperdey folgendermaßen bestimmt: „Man muß zunächst die noch wirksame Einheit des Liberalismus betonen. Metapolitisch glaubten alle Liberalen an die Macht der autonomen Vernunft (und darum an die Erziehung), an das Individuum, seine erst protestantisch-religiös, dann kantisch-säkular begründete moralische Eigenverantwortung, die Chance des Talents und das Leistungsprinzip, die bürgerlichen Lebensideale statt der feudalen, an die gebildete und zivilisierte, insoweit freilich klassengebundene Humanität und an die Kultur; sie glaubten an Recht und Verfassung, an einen Ausgleich von Ordnung und Freiheit, an Arbeit und Familie, an die Nation, antiklerikal, wenn auch nicht antireligiös, an die säkulare Modernität, an den Markt und die freie Wirtschaft, an den nichtinterventionistischen Staat, an Entwicklung und Reform an Stelle von Revolution und Reaktion. Sie setzten auf die Position der Mitte und des Ausgleichs an Stelle der linken und rechten Polarisierungen des Entweder/Oder. Insoweit war „der Liberalismus“ eine weit umfassendere Bewegung, ein weit umfassenderes Werte- und Normensystem, als es mit den liberalen Parteien und ihrer Anhängerschaft umschrieben ist.“ (s. T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 -1918. Bd. 2, Machtstaat vor der Demokratie, S. 316)
Im Rahmen der Ausrufung des Deutschen Kaiserreichs in der kleindeutschen Variante ohne Österreich am 18. Januar 1871 und der für die nächsten fast fünfzig Jahre gültigen gesamtstaatlichen Verfassung vom 16. April 1871 hatten sich die diesbezüglichen das 19. Jahrhundert hindurch vitalen liberalen Hoffnungen und Wunschvorstellungen nunmehr erfüllt. Eine Auflistung der Grundrechte der Bürger im Rahmen der Verfassung ist freilich nicht dabei gewesen.
Für den bald darauf einsetzenden allmählichen Niedergang des Liberalismus sind der Aufstieg der organisierten Arbeiterbewegung nach Aufhebung des Sozialistengesetzes und die Abwanderung zahlreicher bürgerlicher Wähler zum konfessionell gefärbten Zentrum und zu den Konservativen namhaft gemacht worden. Gleichwohl stellten die Liberalen noch in Weimar eine Größe dar, mit der zu rechnen war.
Heute
Wer sich heute meinungsfreudig als überzeugter Neoliberaler zu erkennen gibt, wird mit keiner allzu zahlreichen Fangemeinde zu rechnen haben. Zu schwerwiegend sind die im Zeichen von ungehemmter Deregulierung und Globalisierung und in die vor mehr als einem Jahrzehnt einmündende Finanzkrise ausgelösten Verwüstungen gewesen. Das Maß an sozialer Ungleichheit ist seitdem in den westlichen Demokratien nicht kleiner geworden, wenn der durch Medien des Mainstreams vermittelte Eindruck nicht täuscht, sondern es hat zugenommen. Sofern staatliche gesetzgeberische Maßnahmen wie die Schaffung von Mindestlöhnen wohl noch Schlimmeres zu verhindern wussten, weist der das Maß an Ungleichheit berechnende Gini-Koeffizient darauf hin, dass der allgemeine Wohlstand im klassischen Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr. gleichmäßiger verteilt war als in den USA 1998. Politisches Kapital in Form von Wählerstimmen ist in den letzten Jahren vorwiegend nicht bei liberalen Parteien, denen es beispielsweise um einen weiteren Ausbau persönlicher Freiheits- und Bürgerrechte gegangen wäre, entstanden. Vielmehr sind Populisten im autoritären und völkischen Gewand in die Bresche gesprungen und in der Lage gewesen, Abstiegsängste vieler Menschen aufzunehmen und in Abgrenzungsfantasien gegenüber Minderheiten wirkungsvoll zu kommunizieren.
Ist der Liberalismus, sind liberale Ideen damit zu einem Auslaufmodell, das nicht mehr zeitgemäß erscheint, geworden? Wenn es Parteien und Organisationen mit dem wohlfeilen Etikett liberal in der Zukunft nicht gelingt, überzeugende Antworten auf die sich neu stellende soziale Frage zu finden und in diesem Sinne Problemlösungskompetenz zu demonstrieren, ist es nicht ausgeschlossen, dass deren bestehende Nischenexistenz in eine vollständige Marginalisierung übergeht.