Adel verpflichtet
Wer an der Schwelle zum 19. Jahrhundert Freiherr oder Freifrau in deutschen Landen gewesen ist, hatte die unterste Stufe auf der streng hierarchisch geordneten Treppe des Titularadels erklommen, möglicherweise bereits generationenlang besetzt gehalten. Damit war man einem Baron oder einer Baronin gleichgestellt, was dazu geführt hat, dass diese Anrede neben dem Hochwohlgeboren üblich war und als angemessen geschätzt wurde. Grafen, Fürsten, erst recht Herzöge führten fraglos die bedeutsameren Titel, doch wer lediglich ein von als Namenszusatz aufwies, gehörte „nur“ dem sogenannten untitulierten Adel an und genoss demzufolge im Ergebnis nicht das Sozialprestige eines Freiherrn oder einer Freifrau.
Durch Standesunterschiede begründete gesellschaftliche und soziale Schranken waren insofern das entscheidende Kriterium, das die beiden im Jahr 1797 geborenen Persönlichkeiten, die später dichterisch und schriftstellerisch tätig geworden sind und es zu bis in unsere Gegenwart andauernde literarische Bedeutung gebracht haben, voneinander trennte. Als Sohn eines Tuchhändlers kam in diesem Jahr im Rheinland Heinrich Heine zur Welt, rund 100 Kilometer Luftlinie nordöstlich wurde auf einer jenseits eines Grabens von Eichen und Kastanien umstandenen westfälischen Wasserburg nahe Münster Annette von Droste-Hülshoff geboren. Ihre Eltern waren Clemens August Freiherr Droste zu Hülshoff und Therese von Droste-Hülshoff, eine geborene Freiin von Haxthausen.
Frühe Jahre
Kindheit und Jugend Annettes fanden in bewegter Zeit statt. Als ein wesentliches Element der Napoleonischen Neuordnung weiter Teile Mitteleuropas hat die Säkularisation stattgefunden, die im Ergebnis zu einem weitreichenden Verlust des überall vorhandenen ausgedehnten Kirchen- und Klosterbesitzes führte. Zwar hat der letzte Fürstbischof von Münster, der Habsburger Maximilian Franz, ein Sohn Maria Theresias, den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und die damit verbundene Aufteilung der geistlichen Gebiete persönlich nicht mehr miterlebt, die Trennung der weltlichen Macht von der des bischöflichen Krummstabs sollte sich jedoch als endgültig erweisen. Abgesehen von einigen Jahren, die das Münsterland als Bestandteil des unter französischer Knute befindlichen Großherzogtums Berg verbringen musste, hatte nunmehr Preußen die territoriale Oberhoheit inne.
Fernab der Haupt- und Staatsaktionen und dennoch nicht unberührt von ihnen verlief Annettes Sozialisation. Eigentlich wäre sie wohl eine Stiftsdame in einem weltlichen Damenstift geworden wie ihre Mutter Therese, die bis zur Heirat mit 21 Jahren ihre Zeit im Freckenhorster Stift bei Warendorf zugebracht hatte. Selbst ihre nur unwesentlich ältere Schwester Jenny hat in diesem Sinne davon profitiert, dass die Familie römisch-katholischen Glaubens dem stiftsfähigen Adel angehörte. Dazu gehörten der Nachweis von 16 stiftsfähigen Adelsvorfahren im Rahmen der Aufschwörung und die Leistung einer Zahlung von 800 Talern. Im Gegenzug war es möglich, eine eigene Wohnung im Stift zu beziehen und eine jährliche Rentenzahlung aus den Erträgen der dazugehörigen land- und forstwirtschaftlichen Güter zu beziehen, und zwar lebenslang oder bis zur Heirat. Also eine Art Versorgungsposten für den weiblichen Adelsnachwuchs.
Eine Elementarschule hat Annette nicht besucht, da sie zu Hause auf Burg Hülshoff gemeinsam mit Jenny und den beiden jüngeren Brüdern Werner Konstantin und Ferdinand unterrichtet worden ist. Zunächst von der Mutter, der Religionsunterricht ein besonderes Anliegen war, später dann durch einen Privatlehrer, einem sogenannten Hofmeister. Kenntnisse in Mathematik wurden ebenso wie in den Fremdsprachen Latein und Französisch erworben. Im August 1804 entsteht im Alter von sieben Jahren ein erstes Gedicht Annettes, dem sich bis 1808 zwanzig weitere angeschlossen haben. Die frühe kindliche Begabung wurde familienintern erkannt und gefördert und sorgte auch bei der weiteren Verwandtschaft für teilnahmsvolle Aufmerksamkeit. Einige Jahre später, 1813, folgte mit dem Fragment gebliebenen Trauerspiel „Bertha oder die Alpen“ ein mit adligen Institutionen durchaus nicht unkritisch sich gebender Versuch im dramatischen Fach. Damit begab sich die junge Künstlerin freilich ganz bewusst auf dünnes Eis. Denn nach damaligem Rollenverständnis im Anschluss an Rousseaus Erziehungsideale war die „Bildung zur vollen freien Persönlichkeit durch Entwicklung aller von der Natur in dieses Wesen gelegten Kräfte“ allein den Jungen und nicht den Mädchen vorbehalten. Der öffentliche Raum, die Teilnahme am öffentlichen Diskurs und in der Konsequenz jede Art von allgemeiner künstlerischer Anerkennung war Frauen ergo verwehrt. Was zugestanden wurde, war Dilettantismus. So ist es nicht wirklich überraschend, dass während der gemeinsam 1813 im ostwestfälischen Bökendorf verbrachten Sommerfrische der Märchensammler Wilhelm Grimm sich brieflich bezüglich der mit messerscharfem Verstand ausgestatteten Annette wie folgt geäußert hat: „(…) es ist schade, daß sie etwas Vordringliches und Unangenehmes in ihrem Wesen hat; es war nicht gut mit ihr fertig zu werden (…)“
Rüschhaus und Meersburg
Nachdem der Vater im Jahr 1826 verstorben war und nach geltendem Erbrecht Burg Hülshoff ungeteilt an den ältesten Sohn übergegangen ist, wurde der Umzug ins einige Kilometer entfernte familieneigene Rüschhaus notwendig. Gemeinsam mit Mutter und Schwester wurde der Umzug in den um die Mitte des 18. Jahrhunderts von dem Architekten Johann Conrad Schlaun errichteten Bau bewältigt. Ausgestattet mit einer lebenslang gewährten Leibrente war für die Endzwanzigerin zukünftig existenzbedrohende materielle Not gebannt, große Sprünge indes ausgeschlosssen.
Der Wiener Kongreß 1814/15 mit seinen restaurativen Bemühungen und die Karlsbader Beschlüsse 1819 mit ihren Zensurbestimmungen und Einschränkungen eines liberalen politischen und gesellschaftlichen Klimas hatten schon einige Zeit zuvor die Epoche des Biedermeier eingeläutet, wie sie mit Blick auf die hier entstandene Literatur von Thomas Nipperdey in seiner Deutschen Geschichte treffsicher charakterisiert worden ist: „Und dazu gehört zugleich die Wendung gegen das „Treiben“ der Zeit, der Politik, der großen Gesellschaft hin zum Privaten, zum Frieden des Gemütes, zur Bändigung und Dämpfung der Leidenschaften, des Elementaren und des Unheimlichen, zur Kultur der „Innerlichkeit“. Das schließt ein eine gewisse passive Hinnahme der Welt, ein Ethos von Entsagung und Verzicht, mit dem Ton der leisen Resignation und doch auch der Erfüllung. Man mag darin ein Stück Idylle und Rückzug sehen, die Windstille einer scheinbar kleinen Welt (so wie Hebbel Stifter verspottet hat), aber in Wahrheit ist die später so arg verketzterte heile Welt – bei Stifter etwa, nach Mörike und Annette von Droste-Hülshoff der größte bis ans Ende unseres Zeitraums reichende Dichter dieser Linie -, dem Unheilen, Chaotischen und Widerständigen, den Aufregungen und Entfesselungen der Zeit wie der Subjektivität, den Unheimlichkeiten abgerungen, entspringt dem Versuch, eine schöne und vernünftige, harmonische und sittliche Ordnung vor diesem Hintergrund zurückzugewinnen, den Menschen in das „sanfte Gesetz“ der kleinen Dinge, der Natur des Seins wieder hineinzunehmen.“ (s. T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 2013, S. 576f.)
Die Jahre im Rüschhaus gehen dahin und es dauert bis zum August 1838 bis ein 220 Seiten starker Gedichtband bei Aschendorff in Münster gedruckt wird. Die erste Veröffentlichung! Die zeitlebens mit gesundheitlichen Problemen kämpfende Dichterin hat sich da schon vor längerem den homöopathischen Kuren des Schülers von Samuel Hahnemann, Clemens von Bönninghausen, anvertraut. Eine Linderung der vorhandenen Pein, wie sie mit herkömmlichen medizinischen und für Patienten durchaus nicht ungefährlichen archaisch anmutenden Therapieformen wie Blutigem Schröpfen oder zur Ader lassen nicht möglich erschien, konnte erreicht werden. Dabei war die neben anderen Gebrechen von Seitenstichen, Brustbeklemmung, Abmagerung und Kraftlosigkeit Geplagte selbst intensiv innerhalb der eigenen Verwandtschaft in aufopferungsvoller Krankenpflege tätig. Das sachgerechte Management der zum Rüschhaus gehörenden Getreide- und Obstbestände und das Erteilen von Unterrichten waren weitere Aufgaben, die die Zeit zum Nutzen schriftstellerischen Kreativpotentials nicht zu lang werden ließen.
Den Großteil des letzten Lebensjahrzehnts hat Annette von Droste-Hülshoff am gegenüber der raueren westfälischen Heimat lieblicheren Bodensee zugebracht. Ihre Schwester Jenny war inzwischen mit dem Besitzer der Meersburg verheiratet. Hier durfte sie dann auch ihren großen Erfolg miterleben, als 1842 im Morgenblatt für gebildete Leser, verlegt im Stuttgarter Cotta-Verlag, die Novelle Die Judenbuche erschienen ist. Die um bei der Autorin stets gegenwärtige Themen wie Schuld und Sühne kreisende Kriminalgeschichte hat bis heute nichts an Popularität eingebüßt.
Der Weiher aus dem 1844 erschienen Gedichtzyklus Heidebilder lenkt – ganz im Stil des Biedermeier – den Blick auf das Besondere, das Kleine und offenbart, ganz eigene Sprachbilder findend, die in der Natur angelegte Harmonie:
Er liegt so still im Morgenlicht,
So friedlich, wie ein fromm Gewissen;
Wenn Weste seinen Spiegel küssen,
Des Ufers Blume fühlt es nicht;
Libellen zittern über ihn,
Blaugoldne Stäbchen und Karmin,
und auf des Sonnenbildes Glanz
Die Wasserspinne führt den Tanz;
Schwertlilienkranz am Ufer steht
Und horcht des Schilfes Schlummerlied;
Ein lindes Säuseln kommt und geht,
Als flüstre´s: Friede! Friede! Friede!
Wer mehr über Leben und Werk der Droste erfahren möchte, findet viele interessante Einsichten in der im Insel-Verlag erschienen Biographie von Barbara Beuys. Zwar nicht mehr ganz neu, dennoch lesenswert!
Der kommende Beitrag beschäftigt sich mit der Familie, aus der Otto von Bismarck stammt.