Ist er eine dämonische Erscheinung gewesen? Ein Staatsmann von weltpolitischem Format, ein weißer Revolutionär? Oder doch jemand, von dem aus eine erkennbare Linie hin zu den materiellen und mentalen Verwüstungen des Nationalsozialismus verläuft?
An widersprüchlichen Einschätzungen und Beurteilungen herrscht jedenfalls kein Mangel. Die Feststellung, die der 2016 verstorbene Fritz Stern in den 1970ern im Rahmen seiner Doppelbiographie „Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder“ getroffen hat, dass sich bereits zu seiner Zeit mehr als 7000 Werke mit dem auch als „Eisernen Kanzler“ Verehrten beschäftigt und auseinandergesetzt haben, verweist zunächst auf eine schillernde Persönlichkeit fernab des geläufigen Mittelmaßes, die zahlreichster publizistischer Anstrengungen für wert und würdig erachtet wurde. Der bekannten Historikerin und Adelsexpertin Karina Urbach zufolge ist fast jede zweite Generation in Deutschland einer weiteren Version Bismarcks begegnet.
Geboren in der Altmark
Es waren überaus bewegte Zeiten, in die Otto als viertes von sechs Kindern am 1. April 1815 hineingeboren wurde. Das letzte vergebliche Aufbäumen Napoleons in der Schlacht von Waterloo lag da noch wenige Wochen voraus, ebenso wie die Verabschiedung der Wiener Kongressakte, die Europa ein neues territoriales Antlitz unter restaurativen Aspekten verleihen und das Gleichgewicht der fünf Großmächte wiederherstellen sollte. Das wenige Jahre zuvor aufgelöste Heilige Römische Reich deutscher Nation schließlich ist in die neue Existenzform eines Staatenbundes, des Deutschen Bundes, überführt worden. Von den beiden Vormächten hierzulande orientierte sich im Rahmen eines allmählich ablaufenden Prozesses die Habsburgermonarchie von nun an mehr nach Südosteuropa und in den Donauraum, während das Königreich Preußen durch den Zuschlag der ökonomisch bedeutsamen Rheinprovinz und Westfalens zunehmend auf die Bahn einer Westorientierung geriet. Bonn und Köln waren nämlich auf einmal wie Königsberg, Allenstein oder Berlin preußische Städte, sie befanden sich allerdings nicht auf zusammenhängendem Staatsgebiet. Die politische Lösung dieser in vielerlei Beziehung konfliktträchtigen – sowohl innerdeutschen als auch gesamteuropäischen -staatsrechtlichen Problematik ist Otto von Bismarck zu verdanken, dessen Leben und Werdegang bis zu seiner Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten 1862 im Rahmen dieses Beitrags diskutiert werden.
Vom Geburtsort, Schloss Schönhausen in der Altmark, ist heute lediglich ein als Museum zugänglicher Gebäudeflügel erhalten. Der Rest ist zu DDR-Zeiten zerstört worden. Die Altmark selbst erstreckt sich entlang der Elbe von der Magdeburger Börde nordwärts bis zum Wendland. 1815 waren die adeligen Bismarcks schon seit vielen Generationen vor Ort ansässig und verfügten über ausgedehnten Gutsbesitz. Die Anfänge der Familie lassen sich, sofern die Überlieferung nicht täuscht, hingegen im städtischen Raum festmachen. Ein gewisser Herbordus de Bismarck wird in einer Urkunde aus dem Jahr 1270 als Magister der Gewandschneidergilde von Stendal bezeichnet. Die Herstellung von Tuch wurde damals sehr streng vom lukrativen Zuschnitt und Verkauf oder Handel unterschieden. Einem nicht nur für den lokalen Markt tätigen, sondern überregional aktiven Fernhändler winkte bei glücklichem Gelingen schon im Mittelalter nicht unbeträchtlicher Gewinn. Stendal wie auch andere Hansestädte der Altmark (z. B. Salzwedel, Tangermünde, Havelberg) war in das merkantile Netzwerk des von Lübeck dominierten Kauffahrerbundes integriert. Die von der Altmark aus in Umlauf gebrachten Produkte wie Bier, Fisch, Salz und eben Tuch wurden anderenorts offensichtlich geschätzt. Wie auch immer, die Bismarcks gerieten in den Fokus einer wohlmeinenden Obrigkeit. Der Markgraf von Brandenburg belehnte sie 1345 mit Schloss Burgstall. Zahlreiche weitere Besitztümer sind im Laufe der Jahrhunderte hinzugekommen. In der fernab der Altmark östlich der Oder gelegenen Region Hinterpommern waren es beispielsweise die Güter Külz, Jarchlin und Kniephof. Damit wird deutlich, dass die Bismarcks 1815 nicht nur über ein paar bescheidene Parzellen Land, sondern über ausgedehnten Großgrundbesitz – häufig in der Form von Rittergütern – verfügten. Der Status eines Rittergutsbesitzers, darauf haben Ernst und Achim Engelberg in „Die Bismarcks. Eine preussische Familiensaga vom Mittelalter bis heute“ hingewiesen, war nicht nur der eines gegenüber den Bauern begüterten und privilegierten Nachbars, sondern der eines fast unumschränkten Herrschers in Reichweite der dörflichen Gemarkung. Der ostelbische Junker hatte zudem das Kirchenpatronat inne, übte die Polizeigewalt aus und war gleichzeitig für mehrere Rechtsgebiete zuständiger Gerichtsherr auf seinen Latifundien. Für die an die Scholle ortsgebundene erbuntertänige Landbevölkerung, die gegenüber dem Gutsherrn in vielerlei Formen abgabenpflichtig war und Fron- und Spanndienste zu leisten hatte, veränderte sich unter anderem durch die preußischen Reformen zwar allmählich die seit mehr als einem halben Jahrtausend eingeübte feudale Praxis, die weitestgehende Bewahrung der „von Gott“ gegebenen ständischen Ordnung gehörte hingegen zum Wesenskern einer sich erst seit dem 19. Jahrhundert als Gegenpol zum Liberalismus entwickelnden eigenständigen konservativen Politik.
Zurück zu den frühen Jahren Ottos. Seine Eltern Karl Wilhelm Ferdinand von Bismarck und seine Mutter Louise Wilhelmine, geborene Mencken, gehörten unterschiedlichen Ständen an. Louise Wilhelmine war zwar bürgerlicher Herkunft, doch ihr Vater hatte es im Zeichen des aufgeklärten Absolutismus zu höchsten Staatsämtern in Preußen gebracht. Unter König Friedrich Wilhelm II. ist er 1786 zum Geheimen Kriegsrat befördert worden. Die Humboldtschen Bildungreformen werden ihr Übriges getan haben, um insbesondere mütterlicherseits die Wertigkeit von Schule, Lernen und Ausbildung zu verankern. In diesem Sinne wurde Otto nach Berlin geschickt. Zuerst erwartete ihn die Plamannsche Erziehungsanstalt, das Abitur wurde 1832 im Grauen Kloster abgelegt. Danach ging es, anstatt zur Armee zu gehen und in die weitestgehend dem Adel vorbehaltenen Offiziersränge aufzurücken, zum Jurastudium nach Göttingen, wo Otto weniger als fleißiger, strebsamer Student, denn als trinkfester Tausendsassa und Raufbold in einer schlagenden Verbindung aufgefallen ist. Wirklich interessiert haben ihn wohl nur die Vorlesungen bei dem über siebzigjährigen Historiker Arnold Heeren, die sich inhaltlich mit allgemeiner Länder- und Völkerkunde und Statistik und Geschichte der europäischen Staaten beschäftigt haben. Welchen intellektuellen Einflüssen war Bismarck überhaupt ausgesetzt? Was hat er gelesen? Zwar ist aus späterer Zeit die Aussage überliefert, „Ich habe niemals Zeit und Veranlassung gehabt, mich mit Philosophie zu beschäftigen“, und Arthur Schopenhauer will er – kaum glaubhaft – nicht einmal gekannt haben, doch in jüngeren Jahren gehörten Spinoza, Voltaire, Hegel und die Junghegelianer durchaus zur vertrauten Lektüre. Neben historischen Arbeiten von Dahlmann und Schlosser haben ihm die Werke von Shakespeare und Lord Byron wie die von Goethe, Ludwig Uhland und Heine am Herzen gelegen. Nach Göttingen kam die 1810 gegründete Berliner Universität an die Reihe, an der 1835 erfolgreich das Erste Staatsexamen abgelegt wurde. Das anschließende Referendariat wurde von ihm mehrfach unter- und endlich ohne Examen abgebrochen, selbst der zwischenzeitliche Wechsel vom Justiz- in den Verwaltungsdienst war nicht dazu angetan, das dafür notwendige Interesse und Engagement zu heben.
Wege in die Politik
1839 nach dem Tod der Mutter begab sich Otto von Bismarck nach einjährigem Militärdienst dann auf das hinterpommersche Gut Kniephof, um sich der im Ergebnis ökonomisch erfolgreichen Verwaltung des familieneigenen land- und forstwirtschaftlichen Besitzes zu widmen. Einigen lokalen und kommunalen Aktivitäten folgte mit der Mitgliedschaft im Provinziallandtag der Provinz Pommern 1845 die Übernahme des ersten bedeutenderen politischen Amtes. Wenig später meldet er sich als nachgerücktes Mitglied des Vereinigten Preußischen Landtages, der vom König Friedrich Wilhelm IV. einberufenen Vollversammlung der Provinzialstände aller acht preußischen Provinzen, zu der Frage „1813 – Befreiungs- oder Freiheitskriege“ zu Wort. Er bestreitet, dass es dabei um wie auch immer geartete liberale Reformen gegangen wäre und genießt von da an das Image eines erzkonservativen bis reaktionären Hardliners. Das hat sicher viel mit den ihn beeinflussenden pietistischen Kreisen, in die er mittlerweile geraten war, zu tun. Johanna von Putkamer, die er heiratete, gehörte ihnen ebenso an wie seine politischen Förderer, die Gebrüder von Gerlach. Was den von Gerlachs und anderern Konservativen am Herzen lag, hat der Bismarck-Biograph Lothar Gall wie folgt analysiert: „Denn was er und seine politischen Freunde von Anfang an erstrebten, war nicht die Wiederbefestigung der bürokratisch-absolutistischen Ordnung. Es war die Wiedereinführung der politischen Mitwirkung und Mitregierung der Stände, in erster Linie des Adels, zur Sicherung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung gegenüber willkürlichen Eingriffen von außen und oben. In diese Richtung gingen, in der für ihn charakteristischen undogmatischen Offenheit gegenüber der Frage der Konkretisierung und der Modifizierung im einzelnen, zeit seines Lebens seine Überlegungen und politischen Zielvorstellungen. Noch in seinen Erinnerungen bemerkte er: „Mir hat immer als Ideal eine monarchische Gewalt vorgeschwebt, welche durch eine unabhängige, nach meiner Meinung ständische oder berufsgenossenschaftliche Landesvertretung soweit kontrolliert wäre, daß Monarch oder Parlament den bestehenden Rechtszustand nicht einseitig, sondern nur communi consensu ändern können, bei Öffentlichkeit und öffentlicher Kritik aller staatlichen Vorgänge durch Presse und Landtag.“ Wenn er freilich im gleichen Zusammenhang meinte, diese Grundeinstellung habe ihn eigentlich in die Nähe der liberalen Opposition gerückt, und die Gegnerschaft sei letztlich auf deren „unsympathische Art“ und ihren phrasenreichen Dogmatismus zurückzuführen gewesen, so verdeckte das doch grundsätzliche Meinungsunterschiede. Vor allem hinsichtlich der Rolle des grundbesitzenden Adels, des Anteils anderer sozialer Schichten am politischen Leben und hinsichtlich der Reformbedürftigkeit der nach wie vor ständisch-patriarchalisch strukturierten Agrarverfassung gingen die Auffassungen weit auseinander. Das galt in nicht geringerem Maße hinsichtlich der Rolle der Krone und des Rechts von Mehrheiten ihr gegenüber.“ (s. L. Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt am Main 1980, S. 63f.)

Gedenktafel, Martin-Luther-Platz, Düsseldorf.

Der Eiserne Kanzler in Bronze.

Bismarck-Denkmal am Martin-Luther-Platz in Düsseldorf.

Die Skulptur wurde 1899 enthüllt.
Dass Bismarck recht bald aus dem Windschatten der von Gerlachs und anderer Förderer herausgetreten ist, hat er im Zuge des sich verschärfenden innerdeutschen Dualismus unter Beweis gestellt. Selbst der König war nach der Märzrevolution 1848 auf ihn aufmerksam geworden. Noch wollte der Monarch den bekennenden Royalisten und Urpreußen, der während des vergangenen revolutionären Geschehens plante, nicht nur seine Bauern zur Unterstützung Friedrich Wilhelms IV. zu bewaffnen, sondern auch auf Gut Schönhausen Fahnen in den alten preußischen Traditionsfarben schwarz und weiß anstatt schwarz, rot und gold schwenken ließ, allerdings nicht zum Minister ernennen. „Nur zu brauchen, wenn das Bajonett schrankenlos waltet,“ lautet eine dementsprechende Aktennotiz.
Der inzwischen fünfundreißigjährige Abgeordnete hat seine politische und rhetorische Begabung jedoch wenig später eindrucksvoll bei einer berühmt gewordenen Rede vor der Zweiten Kammer des Preußischen Landtags im Dezember 1850 unter Beweis stellen können. Hier verteidigte er den kurz zuvor in der „Olmützer Punktation“, einem diplomatischen Abkommen mit Österreich und Russland, von Preußen geleisteten Verzicht. Bismarck erläuterte die gegebene Situation weitsichtig: „Es ist leicht, mit dem populären Winde in die Kriegstrompete zu stoßen und sich dabei an seinem Kaminfeuer zu wärmen oder donnernde Reden zu halten.“ Als Triebfeder der Außenpolitik bekennt sich Bismarck hier zu staatlichem Egoismus, aber auch gegen Demokratie: „Ich sehe die preußische Ehre darin, dass Preußen vor allem sich von jeder schmachvollen Verbindung mit der Demokratie fernhalte.“ Auf dem nunmehr eingeschlagenen Weg zur Realpolitik versteht er es, die Auswüchse konservativer Prinzipienreiterei hinter sich zu lassen. Auch an höherer Stelle war man mit solchen Ansichten offenbar einverstanden. Jedenfalls wurde der Junker aus Schönhausen im August 1851 zum Preußischen Gesandten am Bundestag in Frankfurt am Main berufen.
Die Ernennung zum Ministerpräsidenten und Außenminister in Preußen lag zu diesem Zeitpunkt noch ein gutes Jahrzehnt in der Zukunft. Es war schließlich ein veritabler Verfassungskonflikt unter einem mittlerweile neuen Monarchen, Wilhelm I., der Otto von Bismarck für die kommenden dreißig Jahre in die internationale Spitzenpolitik befördern sollte. Die diplomatischen Zwischenstationen in St. Petersburg und Paris werden dafür gewiss nicht schädlich gewesen sein.
Der kommende Beitrag beschäftigt sich mit der Ouvertüre der militärischen Ereignisse, die in die Reichsgründung eingemündet haben: dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864.
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