Kaiser Friedrich III.: Ein (fast) vergessener Herrscher

Als sein Vater Wilhelm I. an den Schalthebeln der Macht saß, ist im Rahmen der kleindeutschen Lösung 1871 das Kaiserreich gegründet worden, unter seinem Sohn Wilhelm II. ist es – keine fünfzig Jahre später – endgültig und unwiederbringlich untergegangen. Nicht unähnlich der römischen Geschichte, die ein Vierkaiserjahr aufweist, in dem sich 69 n. Chr. der Flavier Vespasian schlussendlich gegenüber allen Widersachern durchgesetzt hat, so kennt die deutsche Geschichte ein Dreikaiserjahr: 1888.

In diesem Jahr ist Friedrich III. für einen lediglich 99 Tage währenden Zeitraum als Kaiser herausragendster Repräsentant des noch jungen hiesigen Nationalstaats gewesen. Eine liberale Gesinnung ist ihm nachgesagt worden, so dass schon häufiger die berechtigte Frage aufgeworfen wurde (und immer noch wird), ob denn mit Blick auf den ersten Globalkonflikt des 20. Jahrhunderts alles hätte anders kommen können, wenn nicht ein schwerwiegender Krankheitsverlauf ihn so früh, allzu früh aus der Bahn geworfen hätte? Der hell- und weitsichtige Altphilologe und Philosoph Friedrich Nietzsche hat seinen Tod als „großes entscheidendes Unglück für Deutschland“ angesehen und gefolgert, dass die letzte Hoffnung auf eine freiheitliche Entwicklung hierzulande zu Grabe getragen worden sei. Wer also war Friedrich III.?

Ein Leben in der Warteschleife oder der ewige Kronprinz

Am Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig ist er als preußischer Kronprinz Friedrich Wilhelm im Oktober 1831 in Potsdam im Neuen Palais geboren worden. Die Welt hatte sich seit den Tagen Napoleons mittlerweile erheblich verändert. Europa wurde durch das als Pentarchie bekannte System im Gleichgewicht gehalten, in der Mitte des Kontinents war als Ergebnis des Wiener Kongresses der Deutsche Bund, ein Staatenbund mit einer Vielzahl von Mitgliedern, ins Leben gerufen worden, und die Industrialisierung strebte hierzulande mit großen Schritten ihrem „take off“, einem beschleunigten Abheben, entgegen, das bald nach der Jahrhundertmitte erfolgen sollte. Der damit notwendigerweise einhergehende gesellschaftliche Wandel verlangte nach neuartigen politischen Antworten zu seiner verträglichen Bewältigung. Rezepturen wie sie der aufgeklärte Absolutismus des 18. Jahrhunderts zur Verfügung gestellt hat, taugten nicht mehr. Die großen Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts wurden daher Konservatismus, Sozialismus und Liberalismus. Der Liberalismus deutscher Ausprägung hat bei allen Unterschieden im einzelnen seinen gemeinsamen Nenner im zunächst vergeblichen Streben nach Einheit und Verfassung gefunden.

Als Student der Rechtswissenschaften an der von seinem Großvater, dem preußischen König Friedrich Wilhelm III., gegründeten Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn ist Kronprinz Friedrich Wilhelm mit liberalem Gedankengut in Kontakt gekommen. Zwischen 1850 und 1852 hat er hier vor Ort Vorlesungen beim alten, kurz vor der Emeritierung stehenden Ernst Moritz Arndt, dem Verfasser von „Was ist des Deutschen Vaterland?“, und beim Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, bekannt geworden als einer der Göttinger Sieben, besucht. Sowohl Arndt als auch Dahlmann sind als Leitfiguren der nationalliberalen Bewegung anzusehen.

Als zweite Quelle dieser die menschliche Freiheit schätzenden Denkungsart und Lebenseinstellung sind die intensiven Beziehungen zum britischen Königshaus ausgemacht worden. 1851 ist die vom aus Coburg stammenden Prinz Albert, dem Ehemann von Queen Victoria, organisierte erste Weltausstellung im Londoner Crystal Palace von mehreren Angehörigen der Dynastie der Hohenzollern besucht worden. Der preußische Kronprinz hat dabei nicht nur die älteste Tochter des Herrscherpaares kennengelernt, Victoria (in adelstypischer Verkürzung „Vicky“ genannt) und Friedrich Wilhelm heirateten sogar 1858, sondern es ergab sich ebenfalls ein nicht nur oberflächlicher Kontakt zu Prinz Albert. Eine Vielzahl noch heute erhaltener Briefe sind daraus hervorgegangen. In einem von ihnen aus den Royal Archives von Windsor kann man die an Friedrich Wilhelm gerichtete Einschätzung lesen, dass „Preußen muss erst moralisch Herr von Deutschland sein, ehe es in Europa sein Haupt erheben kann“, was „nicht durch plötzliche Entschlüsse, (…) sondern durch eine lange selbstbewusste, consequente, muthige, echt deutsche und durchaus liberale Politik“ geschehe. So sympathisch Prinz Albert durch die in seiner Lebenspraxis zum Ausdruck kommende Humanität gewesen sein mag – von ihm stammen die ersten Entwürfe für feuerfeste mit Wasserleitungen versehene Arbeiterwohnungen und er präsidierte der Gesellschaft für die Abschaffung der Sklaverei -, so manchem konservativen Berater im Umfeld des kronprinzlichen Vaters – zugleich Monarch – war die von Preußen zu den britischen Inseln gepflegte persönliche Beziehung zutiefst suspekt, da zu viele Interna in falsche Hände zu geraten drohten, es wohl auch sind.

Nachdem dargelegt werden konnte, dass Friedrich Wilhelm auf mindestens zwei Ebenen liberalen Ansichten begegnet ist, bleibt die Frage bestehen, inwiefern sie irgendeine Relevanz in seinem Leben gehabt haben. Sind sie zudem mit einem erfolgreichen Militärführer, der 1866 bei Königgrätz das schlachtentscheidende Manöver mit seiner zweiten Armee durchgeführt hat, widerspruchsfrei in Übereinstimmung zu bringen?

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Kronprinzendenkmal in Kaiserswerth am Rhein.


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Eingeweiht zum zweiten Todestag am 15. Juni 1890.


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Bildhauer Paul Disselhoff.


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Erinnerung an einen Besuch in der Diakonie am 21. September 1884.

Positionen im Antisemitismusstreit und im Kulturkampf

Gegen Ende der 1870er Jahre begann eine kontrovers geführte Debatte die Gemüter im seit einigen Jahren bestehenden Kaiserreich zu erhitzen. Die Rede ist vom Antisemitismusstreit, der in wirtschaftlich schwierigem Umfeld, angeheizt von Wortführern wie dem Journalisten Wilhelm Marr, dem Theologen und Hofprediger Adolf Stoecker und dem seinerzeit überaus prominenten Historiker Heinrich von Treitschke (auf ihn haben sich später als spiritus rector die Nationalsozialisten berufen), immer weitere Kreise zog. Im Kern ging es um die Frage, inwieweit die Emanzipation der jüdischen Minderheit in Staat und Gesellschaft weiter vorangebracht werden sollte oder eben nicht. Eine an den Reichskanzler Otto von Bismarck gerichtete Petition, die mehr als 250.000 Unterschriften aufwies, verlangte in diesem Zusammenhang die Rücknahme wesentlicher Gleichstellungsgesetze. Kronprinz Friedrich Wilhelm hat dazu mehrfach Gegenpositionen vertreten, unter anderem als er im Januar 1881 öffentlich erklärte, dass er antisemitische Handlungen aufs Äußerste missbillige und verwerfe und dass „sein Gefühl  durch die Hineintragung der judenfeindlichen Tendenzen in die Schule und in die Hörsäle am meisten verletzt sei.“

Gänzlich andere Positionen des Thronfolgers erleben wir jedoch einige Jahre zuvor im von Bismarck gegen katholische Kirche und Bevölkerung – wiederum eine Minderheit – gerichteten Kulturkampf. Wie vehement zu Werke gegangen wurde, hat Volker Ullrich in „Die nervöse Grossmacht“ anschaulich beschrieben: „Durch eine Serie von Kampfgesetzen, die im Mai 1873 in Kraft traten, griff der Staat massiv in die inneren Belange der Kirche ein: Danach durfte auf ein Priesteramt nur noch berufen werden, wer Gymnasium und Universität besucht und neben der theologischen Prüfung ein zusätzliches Kulturexamen in Philosophie, Geschichte und deutscher Literatur abgelegt hatte (…). Für die Besetzung eines geistlichen Amtes galt eine Anzeigepflicht; ohne die Zustimmung der Staatsbehörden durfte kein Geistlicher angestellt oder versetzt werden; alle kirchlichen Disziplinarmaßnahmen wurden staatlicher Aufsicht unterworfen; ein weiteres Gesetz erleichterte den Kirchenaustritt, indem es eine einfache Erklärung vor einem Richter für ausreichend befand. Als sich die katholischen Bischöfe weigerten, die Mai-Gesetze anzuerkennen, antwortete Bismarck mit einer weiteren Verschärfung der Kampfmaßnahmen: Ein im Mai 1874 verabschiedetes Gesetz bot die Handhabe, Geistliche, die ihr Amt ohne Zustimmung der staatlichen Behörde ausübten, an ihrer Tätigkeit zu hindern, auch durch Ausweisung aus dem betreffenden Ort oder gar durch Ausbürgerung. Ein Jahr später folgte das Brotkorbgesetz, das die Einstellung aller finanziellen Zuwendungen an die Kirche vorsah, solange sich die Geistlichen nicht auf die Beachtung der Mai-Gesetze verpflichtet hatten. Die Kampf- und Ausnahmegesetzgebung war begleitet von Schikanen, Zensurmaßnahmen und Gesinnungsschnüffelei.“ (s. S. 50 f.) 

Wenn wir heute briefliche Miteilungen Friedrich Wilhelms zum Thema zur Kenntnis nehmen, „Wir können und dürfen nicht zurück, nachdem wir es soweit gebracht haben; nachdem Pius IX. durch seine Enzyklika uns offen den Krieg erklärt (…), ist ein Paktieren nicht mehr denkbar,“ so erscheinen die darin getroffenen Statements alles andere als liberal. Seit jedoch auf dem Vatikanischen Konzil 1870 das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit in Glaubensfragen verkündet worden ist, gehörte es für Liberale gewissermaßen zum guten Ton, gegen die darin enthaltene gegen alle Wissenschaft gerichtete Aufklärungsfeindlichkeit aufzubegehren.

Wäre also vieles anders, manches in einem freiheitlichen Sinne besser geworden, wenn Friedrich III. nicht nur 99 Tage lang, sondern 10, 15 oder 20 Jahre Kaiser geblieben wäre? Der im schottischen St. Andrews lehrende Historiker Frank Lorenz Müller hat darauf, wie ich finde, die wohl überzeugendste Antwort gegeben: „Man beraubt Friedrich III. nicht seines einzigen Anspruchs auf historische Bedeutung, wenn man die Geschichte vom liberalen Kronprinzen, dessen Herrschaft seinem Land und der Welt unbeschreibliches Leid erspart hätte, ins Reich der Legende verweist. Ein solcher Schritt erlaubt es vielmehr, ihn aus dem Traumland kontrafaktischer Fantasie zurückzuholen und seinen tatsächlichen Platz in der deutschen Geschichte auszuloten. Friedrich III. war in jeder Hinsicht ein Produkt wie Bestandteil der Gesellschaft, Kultur und Politik seiner Zeit und mitnichten ein Außenseiter, der kaum Beziehung zu der Welt hatte, in der er lebte. Trotz der Spannungen und Frustrationen, die sein politisches Dasein über weite Strecken überschatteten, wäre es daher irreführend, Friedrich als einen „nicht ganz“ preußischen Hohenzollern zu charakterisieren, wie Emil Ludwig es 1926 tat. Friedrich war in seiner Nation, seinem familiären Hintergrund und seiner Stellung durch eine Vielzahl von Kontinuitäten fest verankert. Sein Liberalismus stand, wenngleich durch die britischen Vorlieben seiner Frau und seines Schwiegervaters beeinflusst, dem gemäßigten, konstitutionellen deutschen Nationalliberalismus eines Bennigsen und Miquel nahe. Daneben war der Kronprinz von einem romantisch-reichsfixierten Nationalismus geprägt, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überall in Deutschland aufblühte. Friedrich verband diese Eindrücke mit Impulsen, die er von seiner eigenen Auffassung der Geschichte und der Aufgabe seiner Familie, vom Vorbild seines Vaters sowie von einem robusten Verständnis der preußischen Staatsräson ableitete. Diese Vielfalt von Einflüssen brachte Widersprüchlichkeiten mit sich, die sich nicht leicht auflösen ließen. Gerade darin war er ein Kind seiner Zeit. Die vielen Deutschen, die ihn „unseren Fritz“ nannten, trafen damit ins Schwarze – vielleicht mehr, als ihnen bewusst war. Im Guten wie im Schlechten war Kaiser Friedrich einer der Ihren.“ (s. Frank Lorenz Müller, Der 99-Tage-Kaiser. Friedrich III. von Preußen: Prinz, Monarch, Mythos, München 2013, S. 371f.)

Bildnachweis©derblogger

Zum Schluss ein Hinweis in eigener Sache: Der kommende Beitrag beschäftigt sich mit dem Historismus.

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