Ein neues Weltbild
350 Jahre waren vergangen, als der rechte Zeitpunkt gekommen schien, nach sorgfältigen Vorarbeiten eine Entschuldigung auszusprechen. Das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche, Papst Johannes Paul II., drückte im Oktober 1992 im Rahmen einer historischen Wiedergutmachungsrede sein Bedauern darüber aus, dass der toskanische Naturforscher Galileo Galilei durch die römische Inquisition in mehrere Gerichtsprozesse verstrickt worden ist. Als „tragisches gegenseitiges Unverständnis“ bezeichnete der Nachfolger Petri die Verurteilung des gebürtigen Pisaners, der gleichwohl nicht frei von Mitschuld gewesen wäre, da er sich geweigert habe, seine 1633 noch nicht bewiesenen wissenschaftlichen Theorien lediglich als Hypothesen zu vertreten.
Ganze 200 Jahre hat es die Arbeit „Dialogo di Galileo Galilei sopra i due Massimi Sistemi del Mondo Tolemaico e Copernicano“ in das Verzeichnis der verbotenen Bücher geschafft. Dort, auf dem berüchtigten „Index librorum prohibitorum“, befand es sich von 1634 bis 1835. Man könnte sagen: Es befand sich in guter Gesellschaft. Denn schließlich ist das epochale astronomische Hauptwerk „De revolutionibus orbium coelestium“ von Nikolaus Kopernikus aus dem Jahr 1543, dessen neuartige Sichtweise Galilei zu ausgiebigen Himmelsbeobachtungen mit dem Teleskop angeregt hat, ebenfalls hier gelandet. Aufgrund welchen Vergehens?
Es war das von Kopernikus als erstem nach Aristarch von Samos und Seleukos von Seleukia vertretene neue Weltbild, das mit der traditionellen Anschauung brach, die ruhende Erde befinde sich im Zentrum des Universums, das weder die Römische Kurie noch die seit Luther sich formierenden verschiedenen evangelischen Kirchen lange nicht akzeptieren konnten und wollten. Statt des seit Urzeiten gültigen aristotelisch-ptolemäischen geozentrischen Weltbildes sollte nun nach den Vorstellungen einiger weniger exzentrischer Forscher und Gelehrter alles anders sein. Die Sonne als Mittelpunkt des Universums! Und die Planeten einschließlich der sich um sich selbst drehenden Erde auf elliptischen Umlaufbahnen um die Sonne, wenn man den Berechnungen Johannes Keplers aus dem Jahr 1609 auf der Grundlage der vom dänischen Astronomen Tycho Brahe zur Verfügung gestellten Daten bereitwillig folgte. Was ergab sich daraus für die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft der Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis am Anfang des Alten Testaments? Danach hat Gott am vierten Tag die Sonne, den Mond und alle Sterne gemacht, sie an das Himmelsgewölbe gesetzt, damit sie der Erde Licht geben. Das geozentrische Weltbild war damit in Übereinstimmung zu bringen, das neue heliozentrische, das kopernikanische Weltbild im Grunde nicht mehr. Das war der scharfe Konflikt, der sich seit der frühen Neuzeit zwischen der alle menschlichen Lebensbereiche dominierenden Theologie und einer den Kinderschuhen noch nicht entwachsenen Naturwissenschaft entspann, und der im Extremfall mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen enden konnte, wie bei dem aufmüpfigen italienischen Gelehrten Giordano Bruno im Jahr 1600 geschehen. Die diesem Konflikt innewohnenden Widersprüchlichkeiten führten schließlich im 19. Jahrhundert zu einer an Geschwindigkeit zunehmenden Entchristianisierung der Welt, ein bis in unsere Gegenwart nicht endender Prozess.
Im 19. Jahrhundert und darüber hinaus
Während in den Anfangsjahren von Astronomie und Physik verstreut über den europäischen Kontinent geniale Einzelkönner Bahnbrechendes zu leisten vermochten, steht das 19. Jahrhundert für eine umfassende Ausweitung und systematische Institutionalisierung der Naturwissenschaften. Chemie, Biologie und Geowissenschaften, zu denen etwa Geologie oder Meteorologie zählen, kommen eigentlich erst jetzt dazu. Beobachten, Messen und Analysieren des Verhaltens oder von Zuständen der Natur mit Methoden, die im Idealfall beliebig wiederholbar sind und trotzdem zu demselben Ergebnis führen, dem einer erkennbaren Regelmäßigkeit, das unterscheidet die jungen Natur- von den bereits seit alters her etablierten Geisteswissenschaften. Beschreibung und Deutung der Welt allein aus dem Geist des Christentums heraus entgleiten den religiösen Instanzen mit zunehmender Rationalisierung jedoch nach und nach immer mehr, so dass der Soziologe Max Weber ganz am Ende des langen 19. Jahrhunderts von einer „Entzauberung der Welt“ gesprochen hat. In seinem Aufsatz „Wissenschaft als Beruf“ aus dem Jahr 1919 heißt es: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen, unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.“ Webers Weitsicht, die sich keineswegs von den Segnungen des seinerzeitigen wissenschaftlich-technischen Fortschritts blenden ließ, wird an anderer Stelle dieses Textes deutlich: „Alle Naturwissenschaften geben uns Antwort auf die Frage: Was sollen wir tun, wenn wir das Leben technisch beherrschen wollen? Ob wir es aber technisch beherrschen sollen und wollen, und ob das letztlich eigentlich Sinn hat: – das lassen sie ganz dahingestellt oder setzen es für ihre Zwecke voraus.“ Der weitere Verlauf des 20. Jahrhunderts und die militärische wie die zivile Nutzung von Erkenntnissen der Atomphysik und ihre in Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl bzw. Fukushima zu besichtigenden Folgen führen einen am Ende des Tages wohl oder übel zu dem einschränkenden Ergebnis, dass nicht alles das, was naturwissenschaftlich prinzipiell richtig erkannt wird und dessen technische Umsetzung in Apparate und Anlagen anschließend gelingen mag, ethisch und moralisch gerechtfertigt und wünschenswert ist. In Ansätzen hat der Atomphysiker Julius Robert Oppenheimer, wissenschaftlicher Leiter des mit der Entwicklung der Atombombe betrauten Manhattan-Projekts, diesen Standpunkt mutmaßlich geteilt, seine ablehnende Haltung zum Thema der noch zerstörerischen Wasserstoffbombe spricht jedenfalls dafür. Doch damit sind wir inzwischen chronologisch weit über das gesteckte Ziel hinausgelangt, daher zurück ins Jahr 1818.
Universitätsgründungen im Geiste Wilhelm von Humboldts
Die Anzahl wichtiger naturwissenschaftlicher Entdeckungen war zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Frankreich und Großbritannien sehr viel größer als auf dem Territorium des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, so umständlich wurde damals das Gebiet des heutigen Deutschland bezeichnet. Der
Wissenschaftssoziologe Joseph Ben-David hat den Anteil der Franzosen und Engländer an Entdeckungen in Wärme-, Elektrizitäts- und Magnetismuslehre sowie in der Optik im Zeitraum von 1806 bis 1815 mit 75 beziffert, der deutsche Anteil lag bei 26. Bei medizinischen Entdeckungen im Zeitraum von 1800 bis 1809 lag der Anteil von Franzosen und Engländern bei 22, der deutsche Anteil bei 6. Seit den 1830er Jahren kehren sich diese Verhältnisse allerdings um, so dass der deutsche Anteil bei Entdeckungen in der Optik, Wärme-, Elektrizitäts- und Magnetismuslehre im Zeitraum 1866 bis 1870 bei 136, der englische und französische zusammen nur bei 91 liegt. Ähnlich sieht das Bild bei Entdeckungen in der Physiologie und Medizin aus. Die Gründe dafür hat man neben dem dafür notwendigen Fleiß und forschender Neugier von hochbegabten Einzelnen in der Hauptsache in der Neurorientierung und dem systematischen Ausbau der Bildungs- und Wissenschaftslandschaft zu suchen, die ein wesentliches Element der preußischen Reformen bildeten. Eines seit den Tagen des Wiener Kongresses 1815 geographisch nicht unerheblich vergrößerten Preußen. Immerhin war im Zuge dessen, völkerrechtlich verbindlich durch die Wiener Kongressakte, die wirtschaftsstarke Rheinprovinz hinzugekommen. Zwar fremdelte man an Spree und Rhein – nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen konfessionellen Ausrichtung – miteinander, der borussische Historiker Heinrich von Treitschke sprach vom Rheinland despektierlich als „diese halbverwälschten Krummstabslande“. Doch Preußen drückte seinen markanten Stempel nicht nur in der Verwaltung, sondern ebenso in der Gründung von Universitäten wie derjenigen in Bonn 1818 auf. Der Typus der humboldtschen Reformuniversität hat damit innerhalb weniger Jahre nach Berlin und Breslau zum dritten Mal seine Verwirklichung gefunden.
Während in Berlin die Botanik und Zoologie noch in die Medizinische Fakultät verwiesen worden sind, verhalf man den Naturwissenschaften in Bonn zu mehr Unabhängigkeit und Selbständigkeit, indem man sie der Philosophischen Fakultät zuordnete. Die naturwissenschaftlichen Sammlungen fanden im Poppelsdorfer Schloss (s. Abb. 3) ihre Heimat und insgesamt sechs Professuren wurden eingerichtet: zwei für Mathematik einschließlich Astronomie und jeweils eine für allgemeine Naturgeschichte und Botanik, Chemie, Physik und Mineralogie.
Im 19. Jahrhundert werden nunmehr allgemein gültige Synthesen im Bereich der Naturwissenschaften möglich, wie sie etwa am Satz von der Erhaltung der Energie exemplifiziert werden können. Der von dem Heilbronner Arzt Julius Robert Mayer 1842 aufgrund von Naturbeobachtungen während einer Tropenreise zuerst ausformulierte Grundgedanke besagt, dass bei allen verschiedenartigen Wechselwirkungen, die es gibt, und Umwandlungen, die tagtäglich in der Umwelt geschehen, eine ganz spezifische Größe immer konstant bleibt, und zwar diejenige, die gemeinhin als Energie definiert wird. Hermann von Helmholtz hat dann wenige Jahre später, 1847, in seiner Arbeit „Über die Erhaltung der Kraft“ das diesem Phänomen zugrunde liegende Gesetz, auf dem die verschiedensten Energieumwandlungen bei physikalischen und chemischen Prozessen basieren, ausführlich demonstriert. Der berühmte Energieerhaltungssatz von Helmholtz besagt also, dass die Gesamtenergie eines abgeschlossenen Systems sich nicht mit der Zeit ändern, sondern nur zwischen verschiedenen Energieformen umgewandelt werden kann. Anwendung findet dieser Grundgedanke unter anderem in Elektro- und Thermodynamik, aber auch in der Quantenmechanik und Relativitätstheorie.
Evolutionstheorie vs. biblische Schöpfungsgeschichte
Das Fach der Biologie ist bisher vernachlässigt worden, was nunmehr zum Ende des Beitrags nachgeholt werden soll. Mit seinen im 16. Jahrhundert vorgetragenen astronomischen Ideen hat Nikolaus Kopernikus das Bild, das wir uns von der Welt machen, auf den Kopf gestellt und grundlegend verändert. Im 19. Jahrhundert trat ein britischer Naturforscher, überaus bewandert in Geologie, Botanik und Zoologie, dazu, der unser Bild vom Menschen und seiner Entwicklung vollkommen neu bestimmt hat.
Die Rede ist natürlich von Charles Darwin, 1809 in Shrewsbury unweit von Birmingham geboren. Als junger Mann hat er sogar für einige Zeit Theologie in Cambridge studiert, weshalb er sehr wohl wusste in welchen Gegensatz er sich zur kirchlichen Lehrmeinung mit seinen Veröffentlichungen aus dem Jahr 1859 „On The Origin Of Species“ und 1871 mit „The Descent Of Man“ bringen würde. Sein Evolutionsgedanke, der eine von Generation zu Generation stattfindende allmähliche Veränderung der vererbbaren Merkmale einer Population von Lebewesen, ergo auch des Menschen, beinhaltete, war ja nun auch wirklich starker Tobak für diejenigen, die die im Buch Genesis enthaltene biblische Schöpfungsgeschichte zum Maßstab nahmen, an sie glaubten. Doch im Grunde war die darin enthaltene Vorstellung, dass Gott Erde nahm, daraus den Menschen formte und ihm Lebenshauch in die Nase blies, ihn erschuf, nach Darwin nicht mehr wirklich haltbar. Auch wenn so mancher vornehme Gentleman, so manche aristokratische Lady bei dem Gedanken, von wem sie abstammten, ein wenig geschaudert haben mögen. Ein Stück Entzauberung der Welt eben!
Bildnachweis©1, 2, pixabay. 3, 4, unsplash.