Europa – Kontinent auf Nebelfahrt

Als sich die Vertreter der Signatarstaaten Belgien, Niederlande, Luxemburg, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und Italien vor nunmehr sechzig Jahren in Rom zusammenfanden, um in der ewigen Stadt auf dem Kapitolshügel die Römischen Verträge zu unterzeichnen, waren Trümmer und Verwüstungen des letzten großen Ringens der Mächte vielerorts noch sichtbar und präsent. Künftigen möglichen Konflikten wollte man durch Verlagerung nationalstaatlicher Kompetenzen und Hoheitsrechte auf eine supranationale, eben die europäische Ebene besser begegnen können. Die seinerzeit ins Leben gerufenen Europäischen Gemeinschaften waren diesen Ideen und Zielen verpflichtet und sind es in ihrer Weiterentwicklung immer noch.

Frankreich hatte gerade auf dem nordafrikanischen Schauplatz erfahren müssen, dass der koloniale Glanz der Vergangenheit auch mit militärischer Unterstützung und im Bündnis mit Großbritannien und Israel nicht ausgereicht haben, den ägyptischen Staat unter Führung des charismatischen ehemaligen Armeeoberst Gamal Abdel Nasser daran zu hindern, den Suez-Kanal 1956 zu verstaatlichen. Der Wille zur Dekolonialisierung obsiegte hier über ein letztes Aufbäumen kolonialer Ambitionen. Im Unterschied zu 1918 nahm hier ein politischer arabischer Nationalismus erfolgreich und unerwartet seinen Lauf. Hingegen wurde die Ohnmacht zweier wesentlicher Akteure der alten europäischen Pentarchie im Angesicht neuer Herausforderungen überdeutlich sichtbar. Womit prinzipiell das ganze 19. Jahrhundert hindurch europaweit ein allseits auskömmlicher Ausgleich der Interessen – der Krimkrieg und die von Bismarck initiierten militärischen Konflikte auf dem Weg zur deutschen Reichseinigung bildeten die Ausnahme – in postnapoleonischer Zeit geschaffen werden konnte, dafür taugten die alten Konzepte nicht mehr.

Für die grande nation war damit ein entscheidender Anstoß gegeben, die Zukunft in einem gemeinsamen Europa zu suchen. Ohne den nach Auffassung des britischen Historikers Ian Kershaw Höllensturz, den der europäische Kontinent in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchleben musste, wären derartige Einsichten wohl nicht in der Form entstanden. Während Frankreich und Deutschland im Laufe der Jahre Motor der Entwicklung in der den Europäischen Gemeinschaften später nachfolgenden Europäischen Union werden sollten, beschränkte sich das United Kingdom im Wesentlichen zunächst auf einen Austausch der Führungsspitze in Downing Street. Auf Anthony Eden, der für das Suez-Abenteuer abgestraft wurde, folgte Harold Macmillan im Amt des Premierministers. So sollte es noch bis zum Jahr 1973 dauern – die eher ernüchternde wirtschaftliche Verfassung des Landes im Kontext der Deindustrialisierung zu jener Zeit gab schlussendlich den entscheidenden Ausschlag – bis Großbritannien geneigt war die Europäische Union mit seiner Mitgliedschaft zu beglücken. Waren alle beglückt? Der seit 1958 in Frankreich amtierende Präsident der V. Republik Charles de Gaulle hatte jedenfalls immer davor gewarnt, mit der potentiellen Mitgliedschaft Großbritanniens hole man sich das Trojanische Pferd der US-Amerikaner ins Haus. So lag denn ein erster britischer Antrag auf Mitgliedschaft bereits 1961 vor, er wurde jedoch auf Betreiben Frankreichs abgelehnt. Doch auch die Briten selbst fremdelten von Beginn an. Der damalige Vorsitzende der Labour-Party Harold Wilson äußerte sich denn auch im Rahmen der Beitrittsfeierlichkeiten, als man es schließlich nach zwölf Jahren untauglichen Versuchs endlich geschafft hatte, in dem Sinne, dass er außerstande sei, ein Ereignis zu feiern, welches ohne Unterstützung der britischen Bevölkerung zustande gekommen sei. Als sich zumal nicht über Nacht eine wirtschaftliche Erholung auf den Inseln einstellen wollte und ein Regierungswechsel von EU-Befürwortern, dabei handelte es sich um eine Frühform der heutigen Remainers, hin zu EU-Skeptikern vollzog, kam man überein, eine Volksabstimmung durchzuführen. Am 5. Juni 1975 entschieden sich 67,2 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung für einen Verbleib und nur 32,8 Prozent für einen Austritt. Im Gegensatz zum 23. Juni 2016 scheiterte also das damalige Referendum. Aus dem bisher Gesagten wird deutlich: Prominente Brexiteers wie der UKIP-Frontmann Nigel Farage oder der aktuelle Außenminister Boris Johnson sind keineswegs originelle politische Vordenker, mindestens bei diesem Thema. Ihre diesbezüglichen Aussagen haben denn auch mehr mit der Schaffung von altem Wein in neuen Schläuchen zu tun als mit innovativem Gedankengut.

Die amtlichen Wahlstatistiken weisen eher auf ein höheres Maß an Verbundenheit der jüngeren Generation mit Europa hin, während die Älteren in der Mehrzahl für einen Austritt votierten. 58 Prozent der über 65-jährigen Wählerinnen und Wähler haben in diesem Sinne abgestimmt, dagegen waren 64 Prozent der 18-24 Jährigen für den Verbleib. Meinungs-umfragen belegen die Bedeutung der Begriffe Souveränität und Migration und die damit verbundenen Ängste und Befürchtungen als wahlentscheidende Themen. Zweifelsohne waren die Vertreter der Brüsseler und Straßburger Institutionen nicht ausreichend imstande, die Vorzüge der mit der Europäischen Union einhergehenden Friedensdividende überzeugend genug zu erklären und darzulegen. Insofern gaben Kommission, Parlament, Rat und nicht zuletzt der Europäische Gerichtshof die Projektionsfläche ab, die Teile der Inselpresse und Brexit-Kampagnenführer zu nutzen wussten, um einen Sündenbock zu verorten: die EU. Ist damit der Kern des Unbehagens in der globalisierten und zunehmend digitalisierten Welt schon hinreichend getroffen?

Bedeutung der Industrie

Die zweite große Revolution der Menschheitsgeschichte, nachdem zuerst die neolithische den Übergang vom umherstreifenden Wildbeuter und Nomaden zum seßhaften Ackerbauern mit sich gebracht hat, wird allgemein die industrielle genannt. Sie beginnt etwa um 1750, und zwar zunächst und ausschließlich in England. Andere Länder ziehen später nach. Laut Pressemitteilung Nr.124 des Statistischen Bundesamtes vom 8. April 2015 stellt sich der Anteil der Bruttowertschöpfung der Industrie an allen Wirtschaftsbereichen 2014 folgendermaßen dar: Deutschland (=22,3 Prozent), EU-Durchschnitt (=15,3 Prozent), Frankreich (=11,4 Prozent) und Großbritannien (=9,4 Prozent). Die prozentuale Gewichtung der Industrie in der deutschen Volkswirtschaft ist demnach um mehr als 137 Prozent höher als in Großbritannien. In Deutschland sind ungefähr 7,5 Millionen Erwerbstätige in diesem Bereich beschäftigt.

Sofern Befürchtungen, man könne als Staat nicht mehr souverän genug agieren oder mit Migration und erwarteter Masseneinwanderung verbundene Ängste die Hauptmotivation der Brexit-Befürworter bilden, wäre zu erwarten, dass diese Ängste und Befürchtungen sich dort am stärksten äußern müssten, wo die Nähe zum Kontinent am größten ist: In Südost-England. Der Blick in die amtlichen Wahlstatistiken sieht Boston mit 75,6 Prozent Ablehnung vorne, auf dem zweiten Rang befindet sich South Holland und auf den Plätzen sieben bis zehn liegen Mansfield, Bolsover, East Lindsey und North East Lincolnshire, jeweils mit um die 70 Prozent Brexit-Befürwortern. Die Rede ist hier aber nicht von Südost-England, sondern es handelt sich um Orte und Distrikte in den East Midlands, Mittelengland, einer der Herzkammern der industriellen Revolution. Die East Midlands können für sich beanspruchen, die älteste Fabrik der Welt, Sir Richard Arkwrigth´s Cromford Mill zu beheimaten. Während in den westlichen Midlands vor allem über Liverpool Baumwolle und andere Rohstoffe aus den Kolonien zur weiteren Verarbeitung und Veredelung importiert wurden, haben sich die östlichen Midlands auf Woll-und Kammgarnprodukte aus heimischer Schafhaltung spezialisiert. Es bedurfte hier vor Ort technisch gesehen dann vor allen Dingen der Weiterentwicklung und der anschließenden 1769 erfolgten Patentierung der Dampfmaschine durch James Watt als Antriebsquelle für  automatische Webstühle und Spinnmaschinen, um den take off  in der Textil- und Bekleidungsindustrie auszulösen. Eine Erfolgsgeschichte, der eine lange Dauer beschieden war, bis schließlich veraltete Produktionsanlagen, zu arbeitsintensive Produktionsmethoden und eine zu geringe Investitionsneigung die lokale Textilindustrie seit 1960 um nahezu 80 Prozent schrumpfen ließen. Noch in den 1980er Jahren gab es hier dennoch in der Textil- und Bekleidungsindustrie mehr Beschäftigte als in jeder anderen britischen Region.

Einen weiteren Hinweis auf die Wirkmächtigkeit endogener Faktoren stellt die Analyse des gewerkschaftlichen Organistionsgrades der working class bereit. So lag der prozentuale Anteil von Betrieben in den East Midlands mit als Gewerkschaftsmitgliedern organisierten Arbeitern im Jahr 1980 noch bei 93,0 Prozent, während er 1984 nur noch bei 63,1 Prozent lag. Betrachtet man die Betriebe ohne Gewerkschaftsmitglieder, so beträgt der Wert für 1980 ganze 7,0 Prozent, nur vier Jahre später sind es bereits 37,0 Prozent, was einer Zunahme von über 428 Prozent entspricht. Der Zusammenhang zur seinerzeit unter Premierministerin Thatcher praktizierten, und gegen die Gewerkschaften gerichteten Wirtschaftspolitik ist offensichtlich. Deregulatorische Maßnahmen desselben Jahrzehnts haben speziell in London den sogenannten big bang entfacht, was auf der Beschäftigungsseite sicher mit ursächlich dafür ist, dass gegenwärtig mehr als jeder Fünfte Brite im Finanzsektor arbeitet. In der City of London, in Islington und auch in der schottischen Finanzmetropole Edinburgh konnte sich denn auch keine Mehrheit für einen EU-Austritt erwärmen. Auf der anderen Seite wird deutlich, dass ein hohes Maß an Deindustrialisierung – heute arbeitet nur noch einer von zwölf Briten in der Industrie – ebenfalls ein bestimmtes Spektrum an Wahlentscheidungen wahrscheinlicher werden lässt, sofern talentierte Demagogen vorhandene Unzufriedenheiten und Ängste in eine ihnen genehme Richtung zu lenken wissen.

Jedenfalls wurde innerhalb der immer noch dominierenden Eliten Großbritanniens, durch Meinungsumfragen gestützt, treffsicher erkannt, dass sich signifikante Teile der eigenen Bevölkerung von der Globalisierung abgehängt fühlten. Entspräche es britischem Selbstverständnis Nabelschau zu betreiben und dem neoliberalen Thatcherismus  dafür Verantwortung, wenigstens ein bißchen, zuzuschreiben. Eher nicht! Stattdessen bemüht die aktuelle Premierministerin May als Sachwalterin des insularen Renationalisierungsprojektes lieber die Vorstellung eines global Britain, als ob die heutigen Mitgliedstaaten des Commonwealth nur darauf gewartet hätten, für sie möglichst nachteilige Handelsverträge mit Großbritannien möglichst rasch abzuschließen.

Plädoyer für Europa

Mit Recht mag darauf hingewiesen werden, dass es doch jedem Staat freistehen müsse, Mitgliedschaften wie die in der EU anzustreben oder auch aufzukündigen. Ob man im Zusammenhang mit Großbritannien soweit geht wie der Karlspreisträger Timothy Garton Ash, der im Interview mit der Zeit vom 25. Mai 2017 davon sprach, dass „unsere Obsession mit der Souveränität absurd ist“, mag auch Widerspruch hervorbringen. Allein, es geht weniger um den Austritt eines, wenn auch sehr bedeutenden Landes, sondern wie die restlichen 27 Mitgliedstaaten eine katalysierende Wirkung auf andere Unzufriedene zu verhindern und zu stoppen wissen. Bedenklich ist in diesem Kontext die rapide Zunahme von linkspopulistischen Bewegungen in Südeuropa (Spanien, Italien, Griechenland) und von rechtspopulistischen Formationen in West-, Nord- und Mitteleuropa (Frankreich, Niederlande, Deutschland). Mit einer gemeinsamen europäischen Idee können viele von ihnen wenig, nur allzu wenig anfangen, während Gedanken der Renationalisierung sich hoch im Kurs befinden. Sollte etwa der neugewählte französische Staatspräsident Macron mit seinen Reformideen und –vorschlägen Schiffbruch erleiden, könnte der Front National draus Kapital schlagen und möglicherweise selbst den nächsten Staatspräsidenten stellen. Europa würde immer weiter fragmentiert und letztlich auch marginalisiert werden. Bündniskonstellationen jenseits aller NATO-Logik könnten gerade Deutschland in eine isolierte Lage bringen, die man seit Jahren eigentlich nicht mehr für wahrscheinlich gehalten hat.

Es sei daran erinnert, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon einmal eine Phase der Globalisierung existierte. Der schottische Historiker Niall Ferguson beschreibt sie anschaulich im Krieg der Welt: „Exakt ein Jahrhundert, bevor zwei entführte Flugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Center flogen, war die Globalisierung bereits Realität, auch wenn man dieses sperrige Wort damals noch nicht kannte. An jenem Tag im Jahr 1901 – einem sonnigen Mittwoch – konnte Keynes´ Bewohner Londons, während er an seinem Tee nippte, einen Sack Kohlen aus Cardiff, ein paar Handschuhe aus Paris oder eine Kiste Zigarren aus Havanna bestellen. … Hätte ihm der Sinn nach einer Reise gestanden, so hätte er eine Kabine auf dem P&O Linienschiff Peninsular  buchen können, das am nächsten Tag nach Bombay und Karatschi auslaufen sollte, oder er hätte sich für eines der anderen 23 P&O-Schiffe entscheiden können, die in den nächsten zehn Wochen in den Fernen Osten fahren sollten, ganz zu schweigen von den 36 weiteren Schifffahrtsgesellschaften, die von England aus alle Teile der Welt ansteuerten.“

Keine anderthalb Jahrzehnte später mündete dieses friedliche Szenario im 1. Weltkrieg, von der deutschen Militärführung ganz wesentlich mit Einkreisungsthesen begründet. Ein zerstrittenes, uneiniges Europa war des Friedens überdrüssig. Gegenwärtig wird an der europäischen Peripherie, in der Ukraine, ein Konflikt ausgetragen, der das Potential eines Flächenbrandes in sich birgt, sofern nicht mit aller Anstrengung eine friedliche Lösung ganz im Sinne der europäischen Idee angestrebt wird.

 

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