Wer sich im Sommer auf den Weg über die Alpen macht, überfährt mit dem Auto aus Richtung Innsbruck kommend am Brenner den Alpenhauptkamm. Die Republik Österreich liegt hinter einem, und bei schönem Wetter strahlt die Sonne Italiens entgegen. Orte wie Sterzing, italienisch Vipiteno, und Brixen, italienisch Bressanone, rauschen vorbei, tendenziell geht es immer weiter abwärts. Viele Hunderttausend, sogar nach Millionen zählende touristische Gäste, dabei auch so manche Spitzenpolitikerin und so mancher Spitzenpolitiker aus deutschen Gefilden, lassen das milde Höhenklima, das auf sie hier wartet, gerne im Urlaub auf sich einwirken. Ja auch die deutsche Fußballnationalmannschaft befand sich hier im Trainingslager zur Vorbereitung auf die vergangene Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien. Dazu kommen die Vorzüge einer traumhaft zu nennenden Landschaft, in der nahezu jeder Einheimische perfekt deutsch und italienisch zu sprechen weiß.
Bei genauerer Betrachtung ergibt sich jedoch, dass in Südtirol noch eine dritte Sprache existiert: das Ladinische. Bei den alle zehn Jahre unter den Südtiroler Bürgerinnen und Bürgern stattfindenden Volksbefragungen haben sich die Betroffenen selbst folgenden Hauptsprachen zugeordnet: Deutsch (1981: 66,40%, 1991: 67,99%, 2001: 69,15%, 2011: 69,41%), Italienisch (1981: 29,38%, 1991: 27,65%, 20001: 26,47%, 2011: 26,06%), Ladinisch (1981: 4,21%, 1991: 4,36%, 2001: 4,37%, 2011: 4,53%). Die autonome Provinz Südtirol (italienisch Alto Adige) – mit der autonomen Provinz Trentino gemeinsam zu einer autonomen Region verbunden – schreibt dem Minderheitenschutz eine hohe Bedeutung zu, was der Grund für die regelmäßig alle zehn Jahre obligatorischen Volkszählungen ist. Aus dem sich daraus ergebenden Zahlenwerk wird vieles vor Ort geregelt. Der ethnische Proporz ist dabei eine gesetzlich festgeschriebene Rahmenrichtlinie, die in Südtirol beispielsweise bei der Vergabe von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst oder von öffentlichen Sozialleistungen zur Anwendung kommt.
Linguisten rechnen das Ladinische der rätoromanischen Sprachengruppe zu. Damit ist ein Hinweis auf die antike Besiedelungsgeschichte des Alpenraumes, wenn nicht großer Teile Europas überhaupt gegeben. Überall, wo es den Römern im Zuge ihrer Expansionsbestrebungen möglich war, Fuß zu fassen und in einem nachfolgenden Schritt vielleicht sogar Provinzen einzurichten, ergab sich für die autochthonen Bevölkerungen die Chance oder – je nach Perspektive – das Risiko, romanisiert zu werden. Der Blogger möchte an einem Beispiel verdeutlichen, was gemeint ist: Ein Land wie Frankreich, im römischen Sprachgebrauch als Gallien bekannt, wurde schon zu Zeiten von Caesar in toto, also komplett erobert. Was für ganz Gallien seit den späten fünfziger vorchristlichen Jahren galt, galt für die heute so beliebte Urlaubsregion der Provence schon etliche Jahrzehnte länger. Römische Kultur und Lebensart, wozu wir infrastrukturelle Maßnahmen zählen wie die Anlage von Straßen, Wasserleitungen und Städten, gleichermaßen jedoch auch die Herstellung, Verbreitung und Anwendung qualitätvoller Metallgegenstände wie Werkzeugen und Waffen oder die Produktion feinen Tafelgeschirrs sind hervorstechende Charakteristika. Nicht zuletzt hatte die lateinische Sprache die Möglichkeit zu jahrhundertelanger Entfaltung bis zu den Frankenstürmen der Völkerwanderungszeit. Diesen Prozeß der Assimilierung und der Übernahme römischer Lebensgewohnheiten bezeichnen Kulturwissenschaftler als Romanisierung. In Frankreich fand Romanisierung statt, ergo ist die französische Sprache eine romanische Sprache. Ebenso verhält es sich mit der portugiesischen, spanischen, italienischen und rumänischen Sprache und der rätoromanischen Sprachengruppe, wozu das in Südtirol im Gebrauch befindliche Ladinisch zählt. Übrigens: In Deutschland hat trotz Einrichtung der Provinzen Ober- und Niedergermanien der Prozeß der Romanisierung nicht nachhaltig genug gegriffen als dass aus der deutschen Sprache schließlich eine romanische geworden wäre. Dieser Befund stellt sich für den Südalpenraum natürlich ganz anders dar.
In der Welt von gestern
Voller Melancholie und unsagbarer Traurigkeit hat Stefan Zweig die untergegangene Welt seiner frühen Jahre beschrieben. Ihm war das Europa des glitzernden und funkelnden Hochadels und eines urbanen Bürgertums sicher näher und lieber als der sich später ausbreitende, unseren so wunderbar reichhaltigen Kontinent ins Verderbnis stürzende Faschismus in all seinen kritikwürdigen Erscheinungsformen. Ist der Eindruck, den man gewinnen könnte, denn so grundfalsch, dass, je turbulenter und schwerer erfassbar sich die Gegenwartsbezüge gestalten, wir nicht Orientierung in den scheinbar so klaren Mustern einer vergangenen Zeit finden? Wenn dem nicht so wäre, wie ließe sich sonst der überragende Erfolg einer Fernsehserie vom Format eines „Downton Abbey“ erklären? Wer den Butler Mr. Carson oder Lady Mary in ihrer snobistischen Selbstverständlichkeit agieren sieht, dem wird unschwer deutlich, dass die Welt eines festgefügten Ordnungssystems bedarf. Keineswegs soll hier das Hohelied des Dienstbotenwesens gesungen werden, Korrekturen sind immer möglich und erwünscht, aber die gegebene Ordnung ist in den Grundzügen wohl kaum beliebig variierbar. Stefan Zweig wäre mit dieser Ausdeutung vermutlich nicht völlig uneinverstanden.
Ein prominenter touristischer Gast Südtirols ist Zweig ebenfalls gewesen. Für den Tourismus in der Welt von gestern ist ein Ereignis überaus bedeutsam: der Bau der Eisenbahn über den Brenner. Die Brennerbahn wurde am 17. August 1867 für den Güterverkehr und am 24. August 1867 schließlich für den Personenverkehr eröffnet. Auf Eröffnungsfeierlichkeiten wurde anläßlich der Erschießung des Bruders des Kaisers der Donaumonarchie Franz Joseph in Mexiko verzichtet. Franz Joseph hat das Zepter von 1848 bis 1916 geschwungen, fast siebzig Jahre lang, trotzdem ist er uns Nachgeborenen vor allem durch seine Heirat mit der dem bayerischen Adel entstammenden Elisabeth, genannt Sissi, in Erinnerung. Romy Schneider hat mit der schauspielerischen Verkörperung von Sissi nicht nur den persönlichen Grundstock für eine filmische Weltkarriere gelegt, sie hat Kaiserin Elisabeth für alle Zeiten in den Herzen deutschsprachiger Europäer verewigt. Neben Maria Theresia und Königin Luise von Preußen erscheint sie als bedeutendste weibliche Herrscherinnenpersönlichkeit unserer Lande des letzten halben Jahrtausends überhaupt.
Wo heute in Meran der Botanische Garten und das Touriseum seine Besucher empfangen, dort fand Kaiserin Elisabeth ihre Unterkunft, in Schloss Trauttmansdorff. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts war Meran bereits als anerkannter Kurort etabliert, Kurverwaltung, Kurordnung und Kurtaxe keine Fremdworte mehr. Die Meraner Traubenkur, der morgendliche und abendliche Genuss von frischen Weintrauben auf nüchternen Magen, erfreute sich in den besseren Kreisen der Gesellschaft großer Beliebtheit. Die große Zeit des einstmals verschlafenen Provinzstädtchens war angebrochen. Die lokale Presse wußte nahezu täglich von Verbesserungen des Gesundheitszustandes von Marie Valerie, der jüngsten Tochter Sissis, zu berichten, und alle Welt las es.
Viele Urlauber von heute tun es der Kaiserin gleich, indem sie auf einem der zahlreichen Wanderwege die Landschaft per pedes erschließen. Es gibt so zahlreiche Beispiele vorzüglich angelegter Wege, dass es geradezu ungerecht erschiene, etwas hervorzuheben. Besonders schön ist auf jeden Fall der sich zwischen Dorf Tirol und Meran erstreckende Tappeinerweg, an dessen Wegesrand unter anderem Magnolien, Agaven, Pinien, Korkeichen, Eukalyptus und Kakteen das botanisch empfängliche Wandererherz erfreuen. Auf dem zwischen Töll und Lana im Meraner Land verlaufenden Marlinger Waalweg, einem Weg entlang des Wassers, hat man die Möglichkeit zur Besichtigung einer mittelalterlichen Burganlage: Schloss Lebenberg. Hier war es, dass Rainer Maria Rilke 1897 schrieb: „Aus der Burg von Fensterbänken schau ich noch ein letztes Mal.“ Zurück in Meran auf der Promenade an der Passer fällt der Blick auf die vergoldete, an der Kuppel des Kurhauses angebrachte lateinische Inschrift mit dem Fertigstellungsdatum: 1914. Nun war es mit dem Tourismus erst einmal vorbei. Europa zerfleischte sich selbst.
Nach Kriegsende war Südtirol nicht mehr der Südbalkon der Habsburger Donaumonarchie, sondern es wurde in den Pariser Friedensverträgen dem italienischen Staat zugesprochen. Mehr als fünfhundert Jahre territorialer Oberhoheit der Dynastie waren unmittelbar aufgehoben. Ob die Südtiroler Bevölkerung wirklich geglaubt hat, einem Völkergefängnis entkommen zu sein?
Die Fortsetzung dieses Beitrags erscheint demnächst in diesem Blog und wird sich mit Südtirol, Italien, Mussolini und dem Faschismus beschäftigen.
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