„Bevor es mit der eigentlichen Buchbesprechung losgeht, möchte ich gerne einige Sätze an die Leserinnen und Leser des Blogs richten. Ich möchte Sie nämlich kurz darüber informieren, was für 2018 geplant ist. Hauptthema soll der Nationalsozialismus in seinen vielfältigen Erscheinungsformen werden, ein Thema das nach wie vor viele Menschen beschäftigt. Dabei soll es hier und ebenso in den in Kürze bei YouTube erscheinenden Videobeiträgen weniger um die Darstellung von Ereignisketten gehen, sondern um die Aufdeckung von Legenden und Mythen, die selbst Jahrzehnte nach Beendigung des letzten Weltkriegs noch häufig genug die Diskussion bestimmen. Heute wird der Anfang gemacht, indem die Person des Albert Speer näher in den Fokus gerückt wird. Speer ist 1937 zum Generalbauinspektor für die Neugestaltung der Reichshauptstadt (GBI) ernannt worden und 1942 zum Rüstungsminister. Damit war er endgültig einer der mächtigsten Akteure des sogenannten Dritten Reichs. Das Erstaunliche: In der Nachkriegszeit gelang es Speer, weitestgehend erfolgreich die Legende des idealistischen Fachmanns und Experten zu etablieren, der von allen um ihn herum passierenden Verbrechen und Furchtbarkeiten nichts wahrgenommen haben will. Ob das so stimmen konnte?“
Wenn der stellvertretende Direktor des renommierten Münchener Instituts für Zeitgeschichte mit einem neuen Werk an die Öffentlichkeit tritt, dann darf die Leserschaft wohl auf einen großen Wurf hoffen. Um es gleich vorwegzunehmen: Er ist Magnus Brechtken im Juni 2017 mit seiner „Eine deutsche Karriere“ untertitelten Speer-Biographie gelungen. Auf insgesamt 910 Seiten, wobei auf den reinen Text 587 Seiten entfallen, präsentiert der Autor den ehemaligen Rüstungsminister der NS-Zeit in einem umfassend neuen Licht. Ein überaus großzügig gehaltener, mehr als 300 Seiten starker wissenschaftlicher Apparat, bestehend aus Anmerkungen, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einem Register versetzt die Leserinnen und Leser in die Lage, die Thesen von Brechtken nachzuvollziehen und nachzuprüfen. Ein weiterer Pluspunkt liegt in der Trennung der Literatur, die bis 1945 erschienen ist und derjenigen, die erst danach veröffentlicht wurde.
Wer sich ein wenig in der Materie auskennt, weiß, dass Albert Speer selbst als Memoirenautor unterwegs war – seine wichtigsten Beiträge sind die 1969 erschienenen Erinnerungen und 1975 die Spandauer Tagebücher – bevor er mit 76 Jahren 1981 verstarb. Wenn man dann berücksichtigt, dass kein geringerer als Joachim Fest 1999 mit einer eigenen Speer-Biographie aufzuwarten wußte, könnte man sich leicht irritiert, ja zweifelnd die Frage stellen, was denn in weniger als zwanzig Jahren so viel Neues herausgekommen sein kann. Der Clou an der Sache ist: Jedenfalls wenig Schmeichelhaftes weder für Speer noch für Fest. Denn Brechtken entlarvt Albert Speer als notorischen Legendenbildner und Märchenerzähler, dem Fest in seiner Apotheose der Zeitzeugenschaft ganz simpel auf den Leim gegangen ist.
Doch der Reihe nach. Speer berichtet über seine Geburt: „An einem Sonntag, dem 19. März 1905, 12 Uhr mittags, kam ich in Mannheim zur Welt. Der Donner eines Frühjahrsgewitters übertönte, wie mir meine Mutter oft erzählte, das Glockengeläute von der nahen Christuskirche.“ (vgl. Albert Speer, Erinnerungen, Berlin 1969, S.19). In der Auswertung dieser Passage liest man bei Brechtken (S. 19): „Abgesehen von Ort und Datum ist alles reine Phantasie. Auf der offiziellen Urkunde ist als Geburtszeit „Vormittags um elf ein Viertel Uhr“ vermerkt, ein Gewitter ist erst für den späteren Nachmittag verzeichnet, und von der Christuskirche stand damals nicht einmal das Fundament.“
Man könnte in diesem Zusammenhang von Erinnerungslücke oder verzeihlicher Lässlichkeit sprechen, wenn nicht zahlreiche andere Beispiele belegten, dass es sich geradezu um eine Methode Speers gehandelt hat, die dazu angetan war, sich selbst stets im besten Licht erscheinen zu lassen. Der Biograph Brechtken führt dazu viele Beispiele vor, ob es sich um den so rasant schnellen Bau der Neuen Reichskanzlei in Berlin gehandelt haben soll, die keineswegs in weniger als einem Jahr realisiert worden ist, denn die Pläne dafür lagen schon jahrelang vor. Geradezu bedrückend wird es, wenn man berücksichtigt, wie Speer dem Internationalen Mititärgerichtshof in Nürnberg es plausibel zu machen verstand, er habe von den Bedingungen im Konzentrationslager Auschwitz nichts gewußt, obwohl Dokumente, die erst später gefunden wurden, belegen, dass er selbst den Ausbau großzügig mitfinanziert hat. Diese Behauptung bewahrte Speer vor Schlimmerem und trug ihm zwanzig Jahre Haft in Spandau ein. Erwähnenswert ist auch, dass er in einem geschickten juristischen Schachzug wohl eine allgemeine Verantwortung für das Geschehene übernahm, eine individuelle Schuld gegenüber dem Gericht allerdings verneinte. Über Speers besondere Beziehung zu Heinrich Himmler liest man bei Brechtken (S. 524): „Von all den nachträglichen Leugnungen und Vernebelungen seiner Taten im Nationalsozialismus war die Distanz-Legende zu Heinrich Himmler und der SS vielleicht Speers größter Erfolg. Die Fakten waren eindeutig: Speer und Himmler hatten über viele Jahre gemeinsam daran gearbeitet, die Eroberungs- und Vernichtungsmaschinerie auf höchste „Effizienz“ zu trimmen. Sie waren Partner schon vor dem Krieg, als Speer Geld hatte und Steine brauchte, Himmler dagegen Geld brauchte und über Sklaven verfügte, mit deren Hilfe er liefern konnte, was Speer verlangte. Im Krieg entwickelten sie sich zu den mächtigsten Akteuren des Herrschaftsapparats. Rüstung und Zwangsarbeit, Kriegsbauten und Sicherungslogistik, Eroberung und Völkerverschiebung, Rohstoffsicherung und Menschenvernichtung – das war Herrschaftsalltag der nationalsozialistischen Führungsriege, als deren herausragende Köpfe Speer und Himmler sich verstanden.“
Eine Frage drängt sich auf. Warum haben der Verleger Wolf Jobst Siedler und der Historiker und spätere Mitherausgeber der FAZ Joachim Fest, Speers Lektor und Interviewpartner bei der Abfassung der Memoirenwerke nach der Haftentlassung 1966, nicht kritischer nachgefragt? Indem sie es unterließen, haben sie ja schließlich ihren eigenen, ganz persönlichen Anteil an Speers Legendenbildung mitgeschaffen. Meiner Ansicht nach ging es beiden mitnichten um historische Wahrheit. Speer, Fest und Siedler bedienten sich in den ausgehenden 1960er und den 1970er Jahren einer bundesdeutschen Öffentlichkeit, die genug von Schuldfragen hatte und vollauf damit beschäftigt war, die Segnungen des Wirtschaftswunders und der Vollbeschäftigung zu genießen, so daß die drei Arrangeure eine andere Erwartungshaltung bedienen mußten, wenn es denn einen Verkaufserfolg der Bücher geben sollte. So schuf man eben die Legende vom pflichtbewußten, letztlich untadeligen „Gentleman-Nazi“, der nichts Schlimmeres getan hat, als ein Rüstungswunder zu verantworten. In seinem Idealismus ist er dann aber irgendwie, so wie man auf einem Behördenflur ganz einfach auch mal heutzutage die falsche Flurtür erwischt, unter solche Typen wie Himmler, Streicher oder Göring geraten. Es wurde eine Identifikationsfigur des Nichtwissens kreiert. Mit anderen Worten: Wenn Speer schon nichts von den Gemeinheiten des Regimes gewußt hat, wie hätte es denn der ganz gewöhnliche Deutsche wissen können?