Was Prähistorie von Geschichte unterscheidet, lässt sich sehr klar und einfach in der Aussage zusammenfassen, dass Geschichte Zeiträume beschreibt und analysiert, über die schriftliche Quellen Auskunft geben. Prähistorie dagegen untersucht diejenigen Zeiträume, für die noch keine Schriftquellen zur Verfügung stehen und die somit Vorgeschichte darstellen.
Wo verläuft also die allgemeine zeitliche Trennlinie zwischen beiden unterschiedlichen Disziplinen? Die überraschende und leicht irritierende Antwort auf diese Frage lautet: Es gibt sie nicht!
Im Halbschatten der Vorzeit
Der als Homo sapiens klassifizierte anatomisch moderne Mensch lebte bereits vor mehr als 150.000 Jahren im afrikanischen Äthiopien. Darauf deuten jedenfalls nach derzeitigem Kenntnisstand einschlägige Funde fossiler Knochen hin. Man darf zwar annehmen, dass umso intensiver Feldforschung von paläoanthropologischer Seite zukünftig betrieben wird, sich das Zeitmaß von 150.000 Jahren verschieben kann. Dennoch ist eine grundsätzliche Orientierung für die Dauer der Existenz unserer Spezies auf dem Planeten Erde damit aktuell gegeben.
Hält man die Anfänge der Nutzung frühester Schriftsysteme in Form der ägyptischen Hieroglyphenschrift und sumerischen Keilschrift dagegen, so überbrücken wir einen Zeitraum der bis in die Gegenwart keine fünfeinhalb Jahrtausende umfasst. Beide Schriften können von kundigen Experten gelesen, übersetzt und interpretiert werden. Die bedeutende Leistung der Entzifferung hat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattgefunden und geht zum einen auf den Franzosen Jean-François Champollion und zum anderen auf den Göttinger Gelehrten Georg Friedrich Grotefend ursächlich zurück.
Wer heute als Gast in London weilt und das Glück hat, das British Museum zu besuchen, wird in Form des sogenannten Rosetta Stone, eines dunkelfarbigen, gut einen Meter hohen mit Inschriften versehenen Steins, den seinerzeit Champollion als Kopie zur Verfügung stehenden Ausgangspunkt seiner Bemühungen zu Gesicht bekommen. Die Trilingue mit demselben Text untereinander in Hieroglyphenschrift, Demotisch und Altgriechisch wies den Weg zur hellen Erkentnis.
Was sich vor knapp fünfeinhalbtausend Jahren im ebenso als Zweistromland bekannten Mesopotamien, dem gegenwärtigen Irak und südwestlichen Iran, an den Ufern von Euphrat und Tigris wie auch im ägyptischen Niltal ereignete, war die im Bereich der frühesten Hochkulturen sich ausbildende Etablierung von Schriftkulturen. Warum und weshalb sich hier vor Ort hydraulische Hochkulturen ausgebildet haben, ist unter Fachleuten nicht unumstritten. Der Universalhistoriker und Geschichtsphilosoph Arnold Joseph Toynbee hat in seinem zwölfbändigen von 1934 bis 1961 erschienenen Hauptwerk „A Study of History“, darauf eine Antwort gefunden, die nicht immer nur wohlwollend aufgenommen wurde, aber im Lichte der globalen Veränderungen, denen wir gegenwärtig im Zuge des Klimawandels unterworfen sind, mir zumindest höchst nachdenkenswert erscheint. Toynbee hat in seinem Konzept von „challenge and response“, von Herausforderung und Antwort, eine Reaktion auf Klimaveränderungen in postglazialer Zeit sehen wollen. Dieser nacheiszeitliche Wandel habe seine Auswirkungen speziell bis nach Nordafrika in Form von Veränderungen der Niederschlagsmengen gezeigt, worauf die davon in den Grundlagen ihrer bisherigen Lebensführung Betroffenen mit Wanderungsbewegungen reagiert und geantwortet hätten. Eine dieser Gruppen hätte danach das zu kultivierende Niltal als Ziel auserkoren.
Warum Schrift?
Der Zusammenhang zwischen an den Ufern von Nil, Euphrat und Tigris entstehenden ersten Städten und erhöhten organisatorischen Anforderungen, um eine Vielzahl von Menschen an den landwirtschaftlichen Erträgen partizipieren zu lassen und Handel zu ermöglichen, ist offenkundig. Nach Auffassung des Ägyptologen Jan Assmann kommen weitere Elemente hinzu: „Anders als in Mesopotamien entwickelt sich die Schrift in Ägypten nicht im Rahmen der Wirtschaft, sondern der politischen Organisation und Repräsentation. Hier ging es nicht um ökonomische, sondern um „politische“ Kommunikation: um die Aufzeichnung von Handlungen besonderer politischer Bedeutung. Die ersten Schriftdenkmäler sind politische Manifeste im Dienste des entstehenden Staates. (…) Damit wurden offenbar vor allem zwei Zwecke verfolgt: einerseits das Ergebnis dieser Handlungen auf Dauer sicherzustellen, indem man es in Stein abbildete und in einem Heiligtum deponierte: also hineinstellte in einen situativen Rahmen, der zugleich permanent und zur Götterwelt hin „öffentlich“ war; andererseits ein Mittel zur chronologischen Orientierung zu schaffen, indem man das Hauptereignis eines Jahres festhielt und das Jahr nach ihm benannte. Das ist daher sowohl der Ursprung der ägyptischen Annalistik und Geschichtsschreibung als auch der gesamten monumentalen Bau- und Bildkunst, die keinen anderen Sinn hat als diesen permanenten und zur Götterwelt hin öffentlichen situativen Rahmen als einen „heiligen Raum der Dauer“ sichtbar zu machen und auszugestalten. Und es ist damit auch der Ursprung der Hieroglyphenschrift, die eine Gattung der Bildkunst bleibt und als „die Schrift der Gottesworte“, wie sie ägptisch heißt, den Aufzeichnungen im götterwelt-öffentlichen heiligen Raum der Dauer vorbehalten ist.“ (s. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 8. Aufl., 2018, S. 169f.)
Das Leben der Menschen in der sumerischen und ägyptischen Hochkultur tritt durch Inschriften auf Tempeln, Papyrustexte, Tontafeln aus Archiven und Bibliotheken, aber auch literarische Texte wie das Gilgamesch-Epos plastisch hervor. Wir bekommen eine Idee und Vorstellung davon, was die damals Lebenden interessiert und bewegt hat und welche Themen für sie bedeutsam waren.
Doch über einen gewaltigen Zeitraum, der annähernd dreißigmal so lang andauerte, liegen kein Schriftzeugnisse vor.
In der Prähistorie
Um es gleich vorwegzunehmen: Diejenigen, die noch nicht über Schrift verfügten und deren Hinterlassenschaften wie Faustkeile, Steinbeile, Fibeln, Tonkrüge, Wallanlagen, Hügel- und Hünengräber, Steinkreissetzungen und Urnen mit verbranntem Gebein weniger mit historischen als mit archäologischen Methoden zu erkunden sind, waren mit Sicherheit keine Primitiven.
Zu großartig und überwältigend sind die Felsmalereien wie sie uns in den Ergebnissen der sogenannten frankokantabrischen Höhlenkunst entgegentreten. Wer die Auerochsen und Wollnashörner der Chauvet-Höhle, den Saal der Stiere von Lascaux oder die Deckengemälde von Altamira betrachtet – und sei es lediglich als Reproduktion – wird sich der davon ausgehenden Faszination schwerlich entziehen können. Dabei sind sie allesamt in der letzten Phase der Altsteinzeit, dem Jungpaläolithikum, vor mehr als 15.000 Jahren als Werke unbekannter Künstler entstanden.

neolithisches Steinbeil mitteleuropäischer Provenienz
Um das zu entwickeln, was heute als Dreiperiodensystem bekannt ist, also die Einteilung prähistorischer Epochen in Stein-, Bronze- und Eisenzeit, musste zunächst einmal die Zeit reif sein. Die Autorität der Bibel und damit der Kirche in Frage zu stellen, war im 19. Jahrhundert nicht ohne Risiken. Dass Charles Darwin sehr lange zögerte, bevor er 1859 sein Hauptwerk zur Evolutionsbiologie „On the origin of species“ veröffentlichte, geschah nicht zuletzt aufgrund entsprechender Rücksichtnahmen. Ähnliche Vorsicht in der Formulierung ist auch dem dänischen Museumsmann Christian Thomsen anzumerken, dem Autor des 1836 publizierten „Leitfaden zur nordischen Altertumskunde“, in dem er auf der Grundlage jahrelanger Beobachtungen die zeitliche Abfolge von Stein-, Bronze- und Eisenzeit erstmals begründet hat. Im Kern folgt man ihm noch heute.
In der letzten Phase der Steinzeit, der auch als Neolithikum bekannten Jungsteinzeit, wird der Übergang vom nomadisierenden Jäger und Sammler zum sesshaften Ackerbauern und Viehzüchter zeitlich verortet. Dabei ereignete sich die „Neolithische Revolution“ regional zunächst im Vorderen Orient in dem Gebiet, das auch als „Fruchtbarer Halbmond“ bekannt ist. Genau hier dürfen wir schließlich auch die Entstehung der ersten Städte, der frühesten Hoch- und Schriftkulturen in der frühen Bronzezeit chronologisch verorten.
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