Als der neunundvierzigjährige Arthur Evans im März 1900 an der Nordküste Kretas an Land ging, hatte er bereits eine Vorstellung davon, dass es vor Ort Bedeutsames zu entdecken gäbe. Wenige Jahrzehnte zuvor war es schließlich dem aus dem Mecklenburgischen stammenden Autodidakten Heinrich Schliemann gelungen, im unerschütterlichen und festen Glauben an den unbedingten Wahrheitsgehalt des homerischen Epos Ilias, das sagenumwobene Troja zu lokalisieren. Eine Quelle der Inspiration war damit gegeben. Dem britischen Archäologen Evans, der bis dato beruflich vor allem durch Bekleidung des Amtes eines Direktors des altehrwürdigen Oxforder Ashmolean-Museums in Erscheinung getreten war, sollte nach Freilegung der Überreste einer mit farbenprächtiger Freskenmalerei versehenen Palastanlage in Knossos klar vor Augen treten: Nichts davon lässt sich der griechischen oder römischen Kultur zuordnen. Eine bis dahin unbekannte bronzezeitliche Hochkultur ohne Vorbilder in Europa gibt seitdem der Wissenschaft ihre Rätsel auf.
Sie erschufen die erste europäische Hochkultur
Heute weiß man, dass die ersten Paläste Kretas etwa ab 2000 v. Chr. erbaut wurden. Die Überreste der einst prachtvollen Anlagen können vor Ort in Knossos, Malia oder Phaistos in Augenschein genommen werden. Die Verwinkeltheit ihrer Flure, Zugänge, Innenhöfe und Treppenhäuser ließ schon den ersten Ausgräber auf den Gedanken kommen, es handele sich um eine Architektur gewordene Bestätigung des griechischen Mythos von Theseus, Ariadne, König Minos und dem Minotauros. Der mit dem Körper eines Menschen und dem Kopf eines Stieres versehene Minotauros trieb der Sage nach in einem labyrinthartigen Komplex seine menschliche Beute, die ihm als Tributleistung zugeführt wurde, verschlingendes Unwesen. In bemerkenswertem Gegensatz dazu steht die Tatsache, dass alle kretischen Paläste, sich hierin dazu von ihren altorientalischen Pendants unterscheidend, unbefestigt waren. Ein starkes Argument für eine friedfertige Gesellschaft.
So jedenfalls erhielt die auf Kreta wiederentdeckte Zivilisation ihren Namen. Doch wer waren die Minoer überhaupt? Erst vor kurzem sind vom Jenaer Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte genetische Analysen durchgeführt worden, die zu dem Ergebnis gekommen sind, dass die Minoer von den ersten neolithischen Bauern der Ägäis und Westanatoliens abstammen (https://www.mpg.de/11421333/genetische-abstammung-minoer-mykener). Ihre Herkunft ist somit richtungsmäßig im Norden und Nordosten zu verorten, nicht im festländischen Griechenland. Die Fähigkeiten, um größere Distanzen auf dem Mittelmeer zurückzulegen, müssen zudem zwingend vorhanden gewesen sein.
Welche Entwicklungsschritte damals stattgefunden haben, darüber sind wir mindestens in groben Zügen informiert. Bereits für das siebte vorchristliche Jahrtausend können für das bereits erwähnte Knossos die Spuren einer dörflichen Ansiedlung nachgewiesen werden. Sesshaftigkeit, Ackerbau mit domestiziertem Getreide und Vorratshaltung für weniger ertragreiche Zeiten bildeten demnach an diesem Ort eine attraktivere Daseinsform als das Leben von umherstreifenden Jägern und Sammlern. Die neolithischen Bauern konnten ihren für notwendig erachteten Bedarf an Fleisch inzwischen über domestizierte Schafe, Ziegen, Rinder und Schweine decken, wie Knochenfunde vor Ort belegen. Das vor mehreren Jahrtausenden in der Region des Fruchtbaren Halbmondes entwickelte neolithische Paket hat in ganzer Variationsbreite erfolgreich auf der fünftgrößten Mittelmeerinsel Einzug gehalten.
Warum aber hat sich um 2000 v. Chr. der Schritt von der dörflichen Ansiedlung zur Palastkultur und städtischen Gemeinschaft auf Kreta ereignet? Klar und eindeutig dürfte sein, dass keine evolutionäre Notwendigkeit dafür bestanden hat. Nach Einschätzung des Althistorikers Frank Kolb zeichnet sich hingegen folgender Rahmen ab: „Aber andere Forscher vermuten, daß Knossos aus relativ weit auseinanderliegenden Quartieren bestand – vergleichbar den ägyptischen Residenzorten. Es ist nichts bekannt über Verwaltung und Marktfunktion dieser „Stadt“, nicht einmal ihre Zuordnung zu den sogennannten Palästen ist geklärt. Ein Urteil ist hier um so schwieriger, als wir nicht wissen, ob diese Paläste Herrscherresidenzen oder Kultzentren waren oder beides zusammen, wie die frühen mesopotamischen Tempel. Jedenfalls waren sie Wirtschaftszentren, wie der Ausgrabungsbefund und die Linear-B-Täfelchen bezeugen. Sie waren die größten Grundbesitzer, Produzenten und Händler, ferner Zentren der Verteilung von Nahrungsmitteln und Rohstoffen sowie Arbeitgeber für ein großes Personal. In den um Innenhöfe in agglutinierender, anarchischer Bauweise gruppierten Räumen hat man Magazine, Werkstätten für Metallurgie, Keramik, Steinbearbeitung usw. sowie Kulträume, Repräsentations- und Wohnräume gefunden. Die Paläste sind architektonischer Reflex eines großen Haushalts, in welchem Rohmaterialien einschließlich Nahrungsmitteln gelagert, verarbeitet und verbraucht, aber auch im Handel vertrieben wurden. In allen diesen Punkten ähneln sie den Tempeln des Alten Orients, besonders jenen von Sumer, sowie den kanaanitischen Palästen, zu denen sie auch architektonische Affinitäten aufweisen.“ (s. Frank Kolb, Die Stadt im Altertum, 1. Aufl., 2005, S. 55)
Das gegenwärtige Wissen um die Genese der minoischen Paläste und der ersten Städte Kretas weist auch 120 Jahre nachdem die Ausgrabungsteams von Arthur Evans ihre ersten Spatenstiche zur Erforschung der Vergangenheit gesetzt haben, nicht unerhebliche Lücken auf. Erschwerend kommt hinzu, dass die vor Ort vor 3500 bis 4000 Jahren gebräuchlichen Schriftsysteme einer insularen Hieroglyphenschrift und die sogenannte Linear A bis heute nicht übersetzt werden können. Das bedeutet: Selbst wenn man so etwas wie eine städtische Gründungsurkunde in der Hand hielte, würde sie als solche nicht erkannt werden können. Um so schwerer wiegt damit das Gewicht der übrigen Hinterlassenschaften.
Zur Meeresherrschaft
Nach mehr als 500 Jahren war die minoische Blütezeit, die üblicherweise in eine Ältere und eine Jüngere Palastzeit unterteilt wird, um das Jahr 1450 v. Chr., mit dieser Jahreszahl den Althistorikern Oswyn Murray und Karl-Wilhelm Welwei folgend, dahin. Während die Gründe für den Niedergang der ersten europäischen Hochkultur nach wie vor intensiv diskutiert werden, ist unstrittig, dass es die vom festländischen Griechenland stammenden Mykener waren, die in der Zeit danach allmählich ihre politische und kulturelle Dominanz auch auf Kreta ausdehnten.
In der antiken Literatur ist die Rede davon, die Minoer hätten eine mediterrane Seeherrschaft, die sogenannte Thalassokratie, ausgeübt. Es sind immerhin Autoritäten wie Herodot und Thukydides, die davon ausgehen. Obwohl beide Autoren Einschätzungen wiedergeben, die sich auf Ereignisse mehr als tausend Jahre vor ihrer Gegenwart beziehen, ist die Fachwelt ihnen gerne überwiegend bereitwillig gefolgt. Seit wenigen Jahrzehnten ist indessen ein Wandel in der Interpretation der archäologischen Befunde und Funde zu beobachten. Die Vorstellung, die Minoer hätten, wie die Royal Navy nach Trafalgar im Atlantik, im Mittelmeer östlich von Sizilien die Seeherrschaft ausgeübt, weicht folgerichtig zunehmend subtileren Betrachtungen. Der Archäologe Cyprian Broodbank bemerkt dazu: „Kretas Keramik war – davon war bereits die Rede – häufig reicher verziert als die zeitgleiche Töpferware aus dem östlichen Mittelmeerraum; in den etablierten Gemeinwesen dort dominierten schlichte Oberflächen oder einfachere Dekors, und dieser Unterschied könnte darauf hindeuten, dass die soziale Ordnung auf Kreta weniger stabil und eher durch offene Konkurrenz bestimmt war. Doch auch auf das Bedürfnis, einem bescheidenen Material durch größere Kunstfertigkeit „Mehrwert“ zu verschaffen, könnte dieser Unterschied zurückgehen, und dies sowohl im internen Kontext – in dem es vemutlich niemals so viel Metall gab, dass es den Wettstreit hätte eindeutig gewinnen können (…) – als auch im Fernhandel, in dem kretische Töpfer mit ihrem Weg ziemlich erfolgreich waren.“ (s. Cyprian Broodbank, Die Geburt der mediterranen Welt, 2018, S. 497)
Insofern könnte eine Mittelpunktfunktion der Insel innerhalb eines sich im zweiten vorchristlichen Jahrtausend heraus kristallisierenden ostmediterranen Handelssystems sehr wohl möglich gewesen sein. Die dazu förderliche künstlerische Expertise und das notwendige seefahrerische Know-how waren zweifelsohne bei den Minoern vorhanden.
Ausblick
Mit dem vorliegenden Beitrag möchte ich eine Reihe von Artikeln zur griechischen Geschichte des Altertums eröffnen. Themen der Frühgeschichte wie etwa die Troja-Debatte und die Persönlichkeit Heinrich Schliemanns sollen dabei entsprechend ihrer Bedeutung und gemäß der zeitlichen Abfolge den ihnen gebührenden Platz einnehmen; andererseits möchte ich mich im Rahmen der Vorstellung des attischen, von uns als klassisch erachteten 5. Jahrhunderts v. Chr. nicht der Fragestellung verschliessen, wie es um den Ursprung der Demokratie bestellt gewesen ist, was es damit auf sich hatte. Nach einer ausführlichen Präsentation des Hellenismus schließlich sehe ich den chronologischen Endpunkt einer eigenständigen griechischen Geschichte in der Antike 146 v. Chr. mit der Zerstörung Korinths durch die Römer gekommen.
Doch noch einmal zurück zu den Minoern. Der nachfolgende, demnächst hier erscheinende Beitrag wird der Frage nachgehen, ob ihre Heimat, Kreta, das untergegangene Atlantis gewesen sein kann.