Von der Antike bis in unsere Gegenwart hat das Schicksal der offenbar aufgrund von Naturkatastrophen im Meer versunkenen Insel Atlantis die Menschen beschäftigt und fasziniert. Dem Lager der Skeptiker, die eine mögliche Existenz von Atlantis stets verneinten, stand von Anfang an das Lager derjenigen gegenüber, die mindestens einen wahren Kern des Mythos für möglich hielten. Als Hauptquelle und Gewährsmann konnten Letztere immerhin auf Platon verweisen. Was ist also der Kern der Geschichte um das sagenumwobene Atlantis?
Der Bericht des Platon
Die Dialoge „Timaios“ und „Kritias“ werden dem Spätwerk des Philosophen zugerechnet und sind um das Jahr 360 v. Chr. herum entstanden. In diesen literarisch gestalteten Gesprächen wird unter Berufung auf den zweihundert Jahre zuvor verstorbenen, als bedeutenden Gesetzgeber Athens in Erscheinung getretenen Solon, soweit heute greifbar, erstmals die Existenz von Atlantis thematisiert. Solon selbst will anlässlich einer Ägyptenreise von Priestern, mit denen er ins Gespräch gekommen ist, die ihm glaubhaft erscheinenden Informationen erlangt haben. In der Übersetzung des „Timaios“ aus dem Altgriechischen von Franz Susemihl erfahren wir:
„Unsere Bücher erzählen nämlich, eine wie gewaltige Kriegsmacht einst euer Staat gebrochen hat, als sie übermütig gegen ganz Europa und Asien zugleich vom atlantischen Meere heranzog. Damals nämlich war das Meer dort fahrbar, denn vor der Mündung, welche ihr in eurer Sprache die Säulen des Herakles heißt, hatte es eine Insel, welche größer war als Asien und Libyen zusammen, und von ihr konnte man damals nach den übrigen Inseln hinübersetzen, und von den Inseln auf das ganze gegenüberliegende Festland, (25a) welches jenes recht eigentlich so zu nennende Meer umschließt. Denn alles Das, was sich innerhalb der eben genannten Mündung befindet, erscheint wie eine (bloße) Bucht mit einem engen Eingange, jenes Meer aber kann in Wahrheit also und das es umgebende Land mit vollem Fug und Recht Festland heißen. Auf dieser Insel Atlantis nun bestand eine große und bewundernswürdige Königsherrschaft, welche nicht bloß die ganze Insel, sondern auch viele andere Inseln und Teile des Festlands unter ihrer Gewalt hatte. Außerdem beherrschten sie noch von den hier innerhalb liegenden Ländern (25b) Libyen bis nach Ägypten und Europa bis nach Tyrrenien hin.“
Gewiss hat Platon den größten Teil seines Lebens in Athen zugebracht, dem Ort, der ihn aufgrund seiner in der Akademie ausgeübten philosophischen Lehrtätigkeit beruflich gebunden hat. Dennoch ist über seine außergriechischen Reisen wohlbekannt, dass er insgesamt dreimal Sizilien und mutmaßlich ebenso Unteritalien aufgesucht hat. Vertrautheit mit der griechischen Kolonisationstätigkeit in „Großgriechenland“, der lateinischen „Magna Graecia“, die seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. zu Stadtgründungen wie Neapolis, Sybaris, Metapont, Selinunt, Syrakus, Paestum und vielen Orten mehr geführt hatte, darf vorausgesetzt werden. Wenn Platon, wie in dem zitierten Timaios-Abschnitt geschehen, Atlantis geographisch jenseits der Säulen des Herakles verlegt, so verwendet er einen Topos, von dem jede und jeder im damaligen Athen – einschließlich er selbst – wußte, was gemeint war: die die Straße von Gibraltar auf afrikanischer und europäischer Seite einfassenden markanten Felsformationen. Die bis zum ersten Punischen Krieg in der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. im westlichen Mittelmeer dominierenden Phönizier hatten dieselbe Formation einst als „Säulen des Melqart“ entsprechend ihren Göttervorstellungen bezeichnet. Nicht zuletzt die Jagd nach Metall trieb die Kauffahrer und Händler des in der Levante beheimateten und schon früh urbanisierten Volkes in ihren seetüchtigen Schiffen bis an die Grenzen der damals bekannten Welt, Gibraltar, und darüber hinaus.
Warum also kommt es zur Gleichsetzung von Kreta mit Atlantis?
Zahlreiche Hypothesen zur Lokalisierung von Atlantis sind mittlerweile aufgestellt worden. Um nur ansatzweise einen Eindruck zu vermitteln: Mit Verweis auf die dort vorhandenen Relikte der durch ihre Großsteinsetzungen bekannte Megalithkultur rückten etwa die Bretagne und die Britischen Inseln in den Fokus. Das meerumtoste, felsige Helgoland in der Nordsee geriet mit anders gelagerten Begründungen ebenso in den Mittelpunkt der Betrachtung. Außerhalb Europas waren es unter anderem die Bahamas, Indien oder der Malaiische Archipel, die vermeintlich mit Atlantis identifiziert wurden. Um hinreichend genau zu sein: Die Theorie, das ehemalige Atlantis könnten die heutigen Bahamas sein, hat man inzwischen verworfen, die These hingegen, die Indus-Kultur – nach der mesopotamischen und ägyptischen chronologisch die dritte der frühesten menschlichen Hochkulturen – könne man sehr wohl damit identifizieren, wird nach wie vor diskutiert.
Wissenschaftliche Fachtagungen wie die „Atlantis Conference“, die 2005 auf Milos, dem antiken Melos, 2008 in Athen und 2011 auf Santorin, dem antiken Thera, stattgefunden haben, widmeten ihre Aufmerksamkeit natürlich auch dem Mittelmeer selbst, und zwar sowohl dem westlichen als auch dem östlichen Teil. Warum also Kreta, das ja nach der von Platon vorgenommenen Lokalisierung richtungsmäßig genau entgegengesetzt liegt?
Die Insel Kreta spielt in diesem Kontext eine ernstzunehmende Rolle, weil hier tatsächlich um 1450 v. Chr. eine bis dato existente Hochkultur, die als die minoische bezeichnet wird, ihr Ende fand. Zwar sind Spuren von Bränden und Zerstörungen nachweisbar, doch die Gründe dafür sind nicht wirklich klar. Innere Unruhen, von denen die blühende Palastgesellschaft erfasst worden sein soll, werden ebenso ins Feld geführt wie eine gewaltsame Okkupation durch eine äußere Macht, die Mykener vom griechischen Festland, die ab jener Zeit nachweislich allmählich ihre politische Dominanz über die fünftgrößte Mittelmeerinsel zu etablieren begannen.
Eine weitere Theorie zum Untergang der minoischen Kultur wurde zeitlebens von dem griechischen Archäologen Spyridon Marinatos verfolgt. Marinatos hat 1967 die durch einen bronzezeitlichen Vulkanausbruch verschüttete minoische Stadt Akrotiri auf der Insel Thera entdeckt und mit ihrer Freilegung begonnen. Ihm zufolge hätten Flutwellen im Zuge der vulkanischen Eruption die entscheidende Ursache für das Ende der minoischen Hochkultur auf dem in der Luftlinie ungefähr 120 Kilometer südlich von Thera gelegenen Kreta gebildet. Heute datiert man mit naturwissenschaftlichen Methoden den Vulkanausbruch, der zweifelsohne stattgefunden hat, auf die Jahre 1665 v. Chr. bis 1625 v. Chr., also rund 200 Jahre vor Eintritt des interessierenden Ereignisses. Daher wird nunmehr eher davon ausgegangen, dass mit dem verschütteten und zerstörten Akrotiri ein wichtiger Knotenpunkt im minoischen Handelsnetz im östlichen Mittelmeer verloren gegangen ist, was im Ergebnis zu einem allmählichen Bedeutungsverlust und stetig sich verringernder ökonomischer Potenz des kretischen Zentrums geführt haben mag.
Und Platon?
Hat Platon also Kreta gemeint, als er von Atlantis sprach? Dies scheint nicht zuletzt eine Frage des Schwerpunkts zu sein, den wir in seinem Bericht erkennen wollen. Sieht man die „Insel“ und die sie heimsuchende „Naturkatastrophe“ im Vordergrund, dann könnte man Kreta als durchaus überzeugende Kandidatin addressieren. Indessen spricht die vom Philosophen vorgenommene „Lokalisierung“ eindeutig dagegen. Hinzu kommt, dass es einen totalen zivilisatorischen Abbruch auf Kreta um 1450 v. Chr. nicht gegeben hat: Die politische Herrschaft ging von den Minoern auf die Mykener über, das Schriftsystem wechselte von Linear A zu Linear B. Den totalen zivilisatorischen Abbruch hat Kreta wie weite Teile des gesamten ostmediterranen Raumes auch erst nach 1200 v. Chr. erlebt. Das kleinsasiatische Hethiterreich, eine Großmacht die zeitweise sogar den ägyptischen Pharaonen Paroli geboten hat, ging damals unter, wie auch die mykenische Herrschaft über größere Abschnitte des festländischen Griechenland und der ägäischen Inselwelt sich unwiederbringlich dem Ende zuneigte. Die sich in diesem Zusammenhang bewegenden Ereignisketten pflegen wir mit den Bezeichnungen Seevölkersturm und Dorische Wanderung zu benennen.
Wenn aber keine der vorgenommenen örtlichen Zuweisungen von Atlantis vollends überzeugen kann, sollte in Betracht gezogen werden, dass Platon eine besonders gelungene Aporie konstruiert hat. Und die Menschen suchen seit 2400 Jahren nach einer Lösung, die es möglicherweise nicht gibt und nie gegeben hat!