Hellenismus
Als der römische Dichter Horaz davon schrieb, dass das eroberte Griechenland seinerseits den rauen Sieger erobert habe („Graecia capta ferum victorem cepit…“), war Griechenlands Bedeutung als ernstzunehmender politischer Gegenspieler der aufstrebenden Stadt am Tiber längst dahingeschmolzen. Über das Jahr 168 v. Chr. hinaus überhaupt von territorialer Integrität und Eigenständigkeit sprechen zu wollen, wirkt fraglos ambitioniert. Die sich in diesem Jahr in der Schlacht von Pydna unweit des Berges Olymp gegenüberstehenden makedonischen Phalangen und römischen Legionen waren zwar zahlenmäßig in etwa gleichstark, das höhere Maß an Flexibilität und Durchschlagskraft der Legionäre in unebenem Gelände gab jedoch den Ausschlag. Der Feldherr Lucius Aemilius Paullus trug schließlich den Sieg über den Makedonenkönig Perseus davon. Was danach in Europas Südosten an Unabhängigkeit übrig blieb, war gerade soviel wie Rom zu gewähren bereit war.
Worin kann dann die von Horaz erwähnte griechische „Eroberungsleistung“ bestanden haben? Die etwas überraschende Antwort darauf lautet: Es sind die Kulturleistungen des Hellenismus, die den in der Späten Römischen Republik und Frühen Kaiserzeit tätigen Dichter nachhaltig beeindruckt und zu seiner Einschätzung (s.o.) bewogen haben.
Insofern sind es mehrere Ebenen, die zu betrachten sind, wenn man den noch vor der Mitte des 19. Jahrhunderts von dem Historiker Johann Gustav Droysen eingeführten Begriff des Hellenismus zutreffend einzuordnen versucht. Politisch sind die gewaltigen Eroberungsleistungen Alexander des Großen, die ihn und seine Soldaten bis nach Indien geführt haben und weite Teile Zentralasiens einschließlich der Relikte des persischen Achämenidenreichs unter der Herrschaft des Makedonenkönigs zu vereinen wussten, ebenso gemeint wie die zahlreichen Stadtgründungen, zu denen es dabei gekommen ist. Seine Nachfolger, die Diadochen, waren nach Alexanders frühem Ableben 323 v. Chr. jedenfalls nicht in der Lage die imperiale Einheit zu wahren, so dass Fragmentierung das Ergebnis war.
Ohne allzu grobe Verallgemeinerung darf man davon sprechen, dass die den Nahen und Mittleren Osten bis zum Indus zeitweise beherrschenden Seleukiden das territorial bedeutendste Erbe angetreten haben, gefolgt von den Ägypten, das nördliche Libyen und einen Teil Kleinasiens dominierenden Ptolemäern. Griechenland selbst wurde von den Antagoniden regiert und der weitaus größte Teil Kleinasiens von den in Pergamon residierenden Attaliden.
Ebenso wie in Griechenland selbst (s.o.) sollten es im getreidereichen Ägypten die Römer sein, die das ptolemäische Erbteil Alexanders einzuverleiben verstanden, indem es 30 v. Chr. den Status einer kaiserlichen Provinz als Folge des Verlusts der Unabhängigkeit erhielt. Der Zugewinn Ägyptens als imperialer Kornkammer durch die Römer bedeutete zugleich nach annähernd dreihundert Jahren das Ende des Hellenismus als politisch selbständiger Größe.
In kultureller Beziehung – verstanden als Nachahmung griechischer Lebensweise – hat der Hellenismus noch sehr viel länger fortgewirkt. Während griechische Sprache und Schrift in zahlreichen in diesem Beitrag erwähnten Regionen bis ins siebte nachchristliche Jahrhundert Basis einer gemeinsamen Verständigung geblieben sind, so gehörte für diejenigen Mitglieder der stadtrömischen Gesellschaft, die etwas auf sich hielten, die Beherrschung der Sprache Platons als selbstverständlicher Teil des Lebens dazu. Neben Latein war Griechisch Amtssprache im Imperium Romanum und zudem im Osten die gebräuchlichere Verwaltungssprache.
Rekonstruktionen dessen, was war, können allerdings nur dort gelingen, wo Berichte und Überlieferungen oder materielle Hinterlassenschaften die Zeiten überstanden haben. Als Beispiel dafür kann das monumentale Alexandermosaik gelten, das ursprünglich aus der Casa del Fauno in Pompeji stammt und sich heute im Nationalmuseum in Neapel befindet. Es zeigt Alexander mit weit geöffneten Augen und seinen achämenidischen Gegenspieler Dareios III. im Schlachtgetümmel, wahrscheinlich Issos oder Gaugamela, im Zentrum der Darstellung. Die Entstehung des Mosaiks wird auf die Zeit zwischen 150 und 100 v. Chr. datiert. Experten vermuten, dass es nach einer verschollenen Gemäldevorlage aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. eines gewissen Philoxenos von Eretria entstanden ist.
Weniger fragil als mit der Malerei verhält es sich mit der Baukunst. Jedenfalls dann, wenn bei der Konstruktion von Gebäuden auf vergängliche Materialien wie Lehmziegel zugunsten einer Bauausführung aus Steinen oder gebrannten Ziegeln verzichtet wurde. In diesem Sinne hat der fähige römische Feldherr und berüchtigte spätrepublikanische Politiker Lucius Cornelius Sulla gewirkt. Der Historiker Sallust hat über ihn geschrieben: „Er war in den griechischen und lateinischen Schriften so gebildet wie die ersten Geister,“ aber auch, „Er war beredt, raffiniert und in der Freundschaft nachsichtig; um über seine Pläne zu täuschen, besaß er eine unglaubliche Unergründlichkeit des Geistes.“
Nachdem ebendieser Sulla von erfolgreich bestrittenen militärischen Unternehmungen im östlichen Mittelmeerraum nach Italien zurückgekehrt war, übernahm er hier hellenistische Bauprinzipien der Axialität und Symmetrie, die von da an zu den Grundpfeilern römischer Architektur überhaupt werden sollten. Was wir heute noch an Modellen der Stadtanlage Pergamons mit ihren künstlichen Terrassierungen und Platzanlagen mit umgebenden Säulenhallen wertschätzen, adaptierte Sulla etwa bei der Anlage des Heiligtums der Fortuna Primigenia in Palestrina, dem heutigen Praeneste. Die hier vorhandenen Freitreppen und Rampen wären ohne die Vorbilder aus dem hellenistischen Osten nicht denkbar.
Während der politische Hellenismus mit seinen territorialen Eroberungen weit in die Räume Asiens ausgegriffen hat, wartet die vorhergehende übergeordnete Sinneinheit der griechischen Geschichte, die Klassik, mit einem kleinteiligeren Hauptthema auf: dem als Polis bekannten Stadtstaat.
Klassik
Wenn wir an Klassik denken, so fallen einem wohl zunächst kulturelle Höchstleistungen ein, wie sie beispielsweise im deutschen Sprachraum auf dem Gebiet der Literatur durch das Zusammenwirken Goethes und Schillers in Weimar oder in der Musik durch Beethovens Sinfonien einer markanten, unverwechselbaren Zeitstellung in der Geschichte zugeordnet werden. In diesem Sinne hat auch die griechische Klassik ihre kulturellen Höchstleistungen hervorgebracht, und zwar gleich auf mehreren Feldern.
Die aus ihren Reisebussen entströmenden Besuchergruppen, die die Athener Akropolis schweißgebadet erklimmen, und die noch heute sichtbaren, aufeinander bezogenen Baukomplexe von Parthenon, Erechtheion, Nike-Tempel und Propyläen betrachten, bekommen eine Idee davon, welch marmorne Schönheit in Ruhe und Ausgewogenheit der Proportionen den Burgberg der Stadt einst umfing. Neben der Architektur sind es in der bildenden Kunst vor allem die Plastik mit Meisterwerken des Polyklet wie dem Doryphoros oder Diadumenos und die rotfigurige Vasenmalerei, die gegenständlich tradiert worden sind. Mit Begriffen wie früher, hoher und später Klassik nebst dem reichen Stil haben Kunsthistoriker und Klassische Archäologen die ihnen immanente organische Entwicklung erfasst und zu klassifizieren verstanden. In der dramatischen Dichtkunst schließlich sind es die Tragödien eines Aischylos, Sophokles oder Euripides, die damals die in Freilufttheatern befindlichen Zuschauermengen zu bewegen wussten. Noch heute gehören die Antigone, Elektra oder die Orestie auf die Spielpläne des Gegenwartstheaters. In der Philosophie ist es nach dem Erscheinen der ionischen Naturphilosophen in Gestalt von Sokrates, Platon und Aristoteles zu einem nächsten Höhenflug europäischen Geisteslebens gekommen.
Dennoch orientieren wir uns an Ereignissen wie der Kleisthenischen Phylenreform mit ihrem Hauptanliegen der Durchmischung der attischen Bürgerschaft gegen Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. und dem Tod Alexanders 323 v. Chr., um Anfang und Ende der zwischen Archaik und Hellenismus verorteten klassischen griechischen Geschichte zu bestimmen.
Wenn nicht der auf eine zentrale Herrschaftsinstanz ausgerichtete Territorialstaat, sondern der unabhängige, sich selbst regierende Stadtstaat, die Polis, das große Thema der griechischen Klassik war, ist zu fragen, mit wie vielen Poleis wir eigentlich zu rechnen haben. Die Herausgeber des „An Inventory of Archaic and Classical Poleis“, der bedeutende dänische Althistoriker Mogens Herman Hansen und Thomas Heine Nielsen, haben dortselbst im Rahmen ihrer Arbeit für das Copenhagen Polis Centre 2004 eine Gesamtzahl von 1035 errechnet. Ihr Hauptverbreitungsgebiet an den Küsten von Mittelmeer und Schwarzem Meer und ihre Bewohner hat Platon in seinem Dialog Phaidon (109b) mit Ameisen und Fröschen verglichen, die sich um einen Teich herum aufhalten würden. Die Flächengröße, die das Stadtgebiet einer einzelnen Polis einnehmen konnte, fiel dabei sehr unterschiedlich aus. Mehr als 1000 Quadratkilometer kommen nicht häufiger als dreizehnmal vor, Athen mit der umgebenden Landschaft Attika verfügte über ein Stadtgebiet von ungefähr 2600 Quadratkilometern. Zum Vergleich: Damit bewegte man sich in Regionen, wie sie heutzutage vom EU-Mitgliedsstaat Luxemburg oder dem hiesigen Bundesland Saarland erreicht werden.
Schon sehr früh haben die Griechen Bewährung als erfolgreiche Seefahrer gesucht und gefunden, indem sie weit über die heimische Inselwelt der Ägäis hinaus in unbekannte Regionen vorstießen. Die Gründung von Al Mina als Handelsstützpunkt am Unterlauf des Orontes in Syrien um 800 v. Chr. und wenig später die Koloniegründung auf der Insel Pithekoussai, dem heutigen Ischia, im Golf von Neapel, um vor allem Eisenerzverhüttung zur Gewinnung des begehrten Rohstoffs Eisen zu betreiben, markieren dabei nur die Anfänge einer dauerhaften Siedlungstätigkeit fern heimischer Gefilde. Trotz beträchtlicher Konkurrenz seitens der Etrusker und Phönizier waren das festländische Süditalien und Sizilien späterhin derart mit griechischen Siedlungen in den fruchtbaren Küstenebenen durchsetzt, dass sich der Begriff „Großgriechenland (= Magna Graecia)“ zur Bezeichnung dieses Phänomems durchgesetzt hat.
Ob die nicht ungefährlichen Fahrten in überseeisches Gebiet vorrangig unternommen wurden, um die das Gemeinwohl beeinträchtigenden Auswirkungen des vorhandenen Bevölkerungsüberschusses abzufedern oder eher um wirtschaftliche Chancen und Möglichkeiten wahrzunehmen, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen im Feld der antiken Wirtschaftsgeschichte. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ist man bereitwillig Aussagen antiker Schriftsteller wie der Herodots (Historien, 7, 102, 1) gefolgt: „Wisse, daß in Hellas von jeher Armut wohnt.“ Bei dem für das Thema einflussreichen und grundlegenden US-amerikanisch-britischen Althistoriker Moses Finley als Exponenten einer minimalistischen Sichtweise über die Potentiale antiker Ökonomie im allgemeinen liest man etwa in seinem Klassiker „The Ancient Economy“ in der deutschen Übersetzung von 1977: „Es gab keine wirtschaftlichen Zyklen in der Antike; keine Städte, deren Aufstieg der Errichtung einer Manufaktur zugeschrieben werden kann, nicht einmal von uns; und es gab keinen Reichtum durch Außenhandel…(a.a.O., S.14)
Dagegen wird heute davon ausgegangen, dass der Handel sowohl von Rohstoffen als auch mit Luxusgütern in der griechischen Wirtschaft sehr viel bedeutsamer gewesen ist, als man noch vor wenigen Jahrzehnten dachte. Mehr noch: Die Anzahl der in Horten gefundenen Münzen – als Indikator für die Menge des Geldumlaufs – hat sich vom 5. auf das 4. vorchristliche Jahrhundert verdreifacht. Neuere Berechnungen des die Ungleichheit von Privatvermögen messenden Gini-Koeffizienten für das spätklassische Athen haben zudem ergeben, dass der dortige Wohlstand gleichmäßiger als in den USA 1998 verteilt war. Der in Stanford lehrende Althistoriker und Politologe Josiah Ober folgert daher: „Vergleicht man die gesamte griechische Welt mit dem gesamten Römischen Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht oder den vermutlich höchstentwickelten griechischen Staat (Athen) mit den höchstentwickelten frühneuzeitlichen Staaten (den Niederlanden und England), so kann man Hellas in der klassischen Periode als wohlhabend beschreiben. Die klassische Blüte war der Höhepunkt der vormodernen Wirtschaftsgeschichte Griechenlands – sowohl die Einwohnerzahl als auch der Verbrauch lagen damals weit über dem vormodernen Normalzustand und übertrafen das Niveau der mittelbronzezeitlichen Blüte Kretas wie auch des starken wirtschaftlichen Aufschwungs Griechenlands im 5. und 6. Jahrhundert n. Chr.“ (s. Josiah Ober, Das antike Griechenland, 2016, S. 152f.)
Ergibt die oben angeführte kulturelle Blüte vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Prosperität, als deren Gründe von Ober vor allem auch faire Regeln in bürgerzentrierten Staaten und deren Wettbewerb untereinander angeführt werden, nicht auch viel mehr Sinn? Im Idealfall konnten eben Investitionen, Innovationen und Spezialisierung das dafür notwendige Wachstum hervorbringen.
Der kommende Beitrag wird sich einer griechischen Polis widmen, die wir weniger mit Kunst und Kultur, sondern vielmehr mit zähem Widerstandsgeist, militärischer Leistungsfähigkeit, aber auch mit massiver Unterdrückung eines Teils der Bevölkerung verbinden: Sparta.
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