Sparta, Ideal der Lieblosigkeit

Heimat der Spartaner war die im Süden Griechenlands gelegene Halbinsel Peloponnes, die mit ihrer Fläche von rund 21.500 Quadratkilometern ein wenig größer als das Bundesland Hessen ist. Die wiederum im Süden der Peloponnes befindlichen Landschaften Lakonien und Messenien nehmen mit ihren zusammengenommen etwa 6.600 Quadratkilometern ein knappes Drittel der auf der Halbinsel vorhandenen Fläche ein. Zu der Zeit als Athen sich in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. im Zenit seines politischen Ansehens und kulturellen Glanzes befand, häufig als Perikleisches Zeitalter bezeichnet, hat man im vom Eurotas durchflossenen Lakonien nicht viel mehr als eine recht unauffällige Ansammlung von mehreren Dörfern vorgefunden, in der Amtssprache der Spartaner Lakedaimon genannt. Architektonische Highlights: Fehlanzeige. Dieser bescheidene Befund hat den Historiker Thukydides zu der Aussage bewogen: „Wenn die Stadt der Lakedaimonier zur Einöde würde, die Heiligtümer und Bauten sich nur in den Fundamenten erhielten, würden wohl die Nachfahren an ihrer Macht im Hinblick auf ihren Ruhm zweifeln.“ Dennoch hat die eigentümliche Lebensweise ihrer Einwohnerschaft, die hier wirkenden Sitten, Bräuche und Traditionen, unsere Vorstellung vom antiken Griechenland bis in die Gegenwart hinein mitgeformt und ausgestaltet.

Nicht unähnlich den Epen Homers, der Ilias und der Odyssee, und den sie bevölkernden Helden wie dem beinahe unverwundbaren Achilleus oder dem listenreichen Odysseus gehören Lichtgestalten der Geschichte Spartas wie König Leonidas und seine Kampfgefährten der mythisch überhöhten Grundausstattung westlicher Zivilisation an. In politischen Systemen und Ideologien, die eine gewisse Geistesverwandtschaft dazu für sich in Anspruch genommen haben, gehörte darum das Aufzeigen vermeintlicher Verbindungslinien zum rhetorischen Einmaleins. Deutlich wird das etwa an der Rede, die Reichsmarschall Hermann Göring zum zehnten Jahrestag der nationalsozialistischen Machtergreifung am 30. Januar 1943 im Ehrensaal des Reichsluftfahrtministeriums in Berlin gehalten hat. Die nicht mehr abwendbare Niederlage in Stalingrad unmittelbar vor Augen verklärte der „zweite Mann des Dritten Reiches“ in seiner charakteristischen barocken Leibesfülle, während die hungernden deutschen Soldaten fernab in der Industriestadt an der Wolga, sofern Empfangsgeräte vorhanden waren, der Rundfunkübertragung zuhören konnten, neben Untergangsszenarien aus den Nibelungen das Beispiel von Leonidas und seinen Spartanern 480 v. Chr. bei der Schlacht an den Thermopylen gegen die Perser als vorbildhaften Opfergang. Der Kommandeur des Stalingrader Nordkessels General Strecker soll allerdings daraufhin erbost zurückgefunkt haben: „Vorzeitige Leichenreden unerwünscht!“ 

Die Anfänge

Die Anfänge Spartas exakt bestimmen zu wollen, ist aus mehr als einem Grund problematisch. Das steht unmittelbar damit in Zusammenhang, dass am Ende der Bronzezeit die auf der Peloponnes und anderenorts in Griechenland dominierende mykenische Hochkultur zerstört wurde und somit ihrem unwiederbringlichen Ende entgegensah. In jenen die ungefähr dreihundert Jahre währende Phase der „Dunklen Jahrhunderte“ einläutenden Wirren der Zeit um 1200 v. Chr., die mit dem sogenannten Seevölkersturm identifiziert werden, sind nicht nur materielle Hinterlassenschaften der Mykener wie ihre befestigten Burgen und Adelssitze, sondern ebenfalls Kenntnisse und Gebrauch der von ihnen verwendeten Schrift, der Linear B, verloren gegangen. Als finale Ereigniskette einer unübersichtlichen und schließlich den gesamten östlichen und südöstlichen Mittelmeerraum erfassenden Wanderungsbewegung wird dabei die Dorische Wanderung, die um 1000 v. Chr. im Süden Griechenlands, auf der Peloponnes, zum Abschluss gekommen ist, angesehen.

Im Zuge dessen sind die schriftlosen Dorier in der Landschaft Lakonien (s.o.) angekommen, haben dort Fuß gefasst und die bereits dort lebende Bevölkerung, die nachmaligen Heloten, schrittweise unterworfen. Da sich der Stadtstaat Sparta in schriftloser Zeit in der Landschaft Lakonien formierte, sind wir über sein territoriales Ausgreifen ins westlich anschließende Messenien (s.o.) nur bruchstückhaft informiert. Als überwiegend gesichert darf dennoch angenommen werden, dass gegen Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. nach einem zwei Jahrzehnte währenden militärischen Ringen das messenische Gebiet dem Territorium der Polis Sparta angeschlossen worden ist. Fruchtbare und landwirtschaftlich nutzbare Flächen, deren Bearbeitung von den in ihrem Rechtsstatus zwischen Sklaven und Unfreien bis in hellenistisch-römische Zeit schwankenden Heloten übernommen werden musste, wurden in großem Umfang integriert. Die sich anderenorts in der griechischen Welt aufgrund der wachsenden Bevölkerungszahlen entfaltende Kolonisationsbewegung hat hier auch deswegen keinen Nachhall gefunden. Die Gründung von Taras, dem heutigen Tarent in Apulien, sollte Spartas einziger Beitrag zu den griechischen Kolonien in Süditalien bleiben. Die sich gleichzeitig an der Wende vom 8. zum 7. Jahrhundert v. Chr. herausbildende griechische Schrift lässt von nun an die Informationen zahlreicher werden.

Politik und Gesellschaft

Bereits für die Frühzeit zeichnet sich eine aus Heeresversammlung (appella) und Ältestenrat (gerousia) bestehende politische Verfassung ab. Ein eher ungewöhnliches Element war jedoch die aus zwei Basileis bestehende Einrichtung des Doppelkönigtums. Ihr neben anderen Funktionen auch das Feldherrnamt umfassendes Aufgabenspektrum lässt einen unwillkürlich an das höchste zivile und militärische Amt der Römischen Republik denken: das Konsulat, das ja ebenfalls durch das Prinzip der Kollegialität der Amtsinhaber gekennzeichnet ist. Wie Politik um 700 v. Chr. aktiv gestaltet wurde, darüber informiert die aus späterer Zeit stammende Biographie des Lykourgos von Plutarch: „Wenn aber das Volk eine krumme Entscheidung trifft, sollen die Ältesten und Fürsten es abtreten lassen, das heißt, den Entscheid nicht annehmen, sondern das Volk (=die Volksversammlung) abtreten lassen und auflösen, da es den Antrag entgegen dem Wohl des Staates verdrehe und verändere.“ Die bereits erwähnten Heloten durften an derartigen Versammlungen genauso wenig teilnehmen wie die als Periöken bezeichneten „Umwohner“, die zwar Mitglieder des lakedaimonischen Gesamtstaates und somit zum Kriegsdienst verpflichtet waren, jedoch nicht als Vollbürger angesehen wurden. Dieses Privileg stand allein den „Gleichen“ (Homoioi) zu, sehr viel besser bekannt als Spartiaten.

Wie sich der Weg anfänglich gestaltete, um im Alter von zwanzig Jahren in den Kreis der Spartiaten, die zu Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. zur Zeit der Perserkriege etwa 8000 Hopliten stellten, aufgenommen werden zu können, beschreibt der britische Althistoriker Oswyn Murray: „Vom siebten Lebensjahr an begann dann für alle (…) die staatliche Erziehung, die agoge. Die Jungen wurden den agelai (Scharen, wörtl. „Herden“) unter jeweils einem „archon der agele“ zugeteilt und dort von einem Beamten und von älteren Jungen beaufsichtigt. Im Lauf der Zeit durchliefen sie eine ganze Reihe weiterer Stadien, die alle obskure, archaisch klingende Namen hatten. Ab dem Alter von zwölf Jahren wurden sie Schritt für Schritt in die Gemeinde aufgenommen; sie hatten eine eigene Schlafstätte, eine Streuschütte, jeglicher Luxus war verboten. Sie durften keine Schuhe und nur einen Mantel das ganze Jahr hindurch tragen und mußten von einer Kost leben, die – so war es die Absicht des Systems – ihren Hunger nicht stillte: Lebensmitteldiebstahl war eine Ehrensache, wer ertappt wurde, bekam Schläge nicht als Strafe für den Diebstahl, sondern damit er sich künftig geschickter anstellte. Die eigentliche Ausbildung bestand in Musik- und Sportunterricht und in militärischem Training. (…) Das Erziehungssystem umfaßte also alles, was solche paramilitärischen Jugendorganisationen gewöhnlich auszeichnet. Es sollte Disziplin, Selbstvertrauen, sozialen Zusammenhalt, Loyalität, Gehorsam und Uniformität fördern und schuf sich dafür seine eigenen, offenbar alten, aber im Grunde bedeutungslosen Rituale und seine eigene Sprache. Konformität war für das Überleben unabdinglich;“ (s. Oswyn Murray, Das frühe Griechenland, 3. Aufl. 1986, S. 220f.)

Ähnliche Tendenzen in der NS-Zeit

Natürlich ist es gewagt den Sprung von der griechischen Archaik und Klassik ins 20. Jahrhundert zu unternehmen. Die Annäherung kann dennoch gelingen, wenn das in der NS-Zeit durch die Geschichtswissenschaft vermittelte Spartabild und damalige gängige  pädagogische Vorstellungen miteinander in Beziehung gesetzt werden.

Fragt man nach pädagogischen Ratgebern und Leitfäden, die für die Erziehung in Kindergärten, Heimen und Reichsmütterschulungen relevant waren, so findet sich recht bald der Titel „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ der Lungenfachärztin Johanna Haarer aus dem Jahr 1934. Bis Kriegsende wurden davon 690.000 Stück und sogar noch bis 1987, nunmehr in sprachlich überarbeiteter Fassung, insgesamt 1,2 Millionen Bücher verkauft. Auch ohne pädagogische Ausbildung warnt Haarer vor äffischer Zuneigung zum Kind und erläutert: „Die Überschüttung des Kindes mit Zärtlichkeiten (…) kann verderblich sein und auf die Dauer verweichlichen. Eine gewisse Sparsamkeit ist der deutschen Mutter und dem deutschen Kinde sicherlich angemessen.“ (https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2018-07/ns-geschichte-mutter-kind-beziehung-kindererziehung-nazizeit-adolf-hitler)

Wohl allen Leserinnen und Lesern die Kindheit und Jugend irgendwann zwischen den 1950er und 1990er Jahren verbracht haben, ist vermutlich der Spruch „Indianerherz kennt keinen Schmerz!“ noch immer vertraut oder die noch markigere Variante, die es zu dem Buchtitel „Geweint wird, wenn der Kopf ab ist!“ gebracht hat. Übrigens aus der Feder von Kurt Meyer dem Sohn des gleichnamigen Vaters, der es als „Panzermeyer“ und jüngster Generalmajor der Waffen-SS im Dritten Reich zu einiger Berühmheit gebracht hat.

Um gute Soldaten und willfährige Mitläufer zu erhalten, war es für den Staat wünschenswert, schon die Kleinsten und Jüngsten möglichst emotions- und bindungsarm heranwachsen zu lassen. Ein Ideal der Lieblosigkeit, das, so legen einige psychologische Studien nahe, von einer Generation zur nächsten weitervererbt worden ist.

Gab es jedoch in Deutschlands dunkelster Vergangenheit ein geschichtliches Bild von Sparta, das fundiert genug gewesen wäre, um den hier gezogenen Vergleich zu gestatten? Ich meine: Ja! Es ist damit an der Zeit auf Leben und Werk des 1896 in Breslau geborenen Helmut Berve einzugehen. Berve, der 1926 mit einer über 800seitigen Habilitationsschrift „Das Alexanderreich auf prosopographischer Grundlage“ hervorgetreten ist und von 1927 bis 1943 Alte Geschichte an der Universität Leipzig gelehrt hat, ist während der NS-Zeit der wohl herausragendste Spezialist für Griechische Geschichte im deutschen Sprachraum gewesen. Ein brillanter Denker, ausgestattet mit schier unermesslichem Kenntnisreichtum, leider auch ideologisch verblendet genug, um überzeugter Nationalsozialist zu sein. Berve hat 1937 seine „Sparta“-Monographie veröffentlicht, die im vorletzten Kriegsjahr 1944 noch einmal trotz Papiermangels nachgedruckt wurde und zum Lesekanon an den Adolf-Hitler-Schulen gehörte. Eine Kostprobe: „Die absolute Härte, mit der diese Zweiheit aufrechterhalten wurde, hat den Lakedämoniern und besonders ihrem Adel eine schlechthin einzigartige Reinheit der Stammesart, Einheitlichkeit der Gesinnung und damit höchste Geschlossenheit nach außen bewahrt. Hier, wenn irgendwo, konnte daher der Geist der nordischen Einwanderer, der in so vielen Zügen sich germanischem Wesen verwandt zeigt, die ideale Form des Lebens verwirklichen, die in ihm von Natur angelegt war. Nicht in stiller Abgeschiedenheit ist das geschehen, so entschieden der Kranz der Gebirge das lakonische Land umschloß, sondern in der Welt der harten Realitäten. Denn kein Idyll ist Sparta gewesen, sondern ein Stück wahrer, leibhaftiger Geschichte des Volkes der Hellenen.“ (s. S. 16f.) Kritik an der Inhumanität des spartanischen Systems dagegen, hat Berve nicht geäußert. Dass Neugeborene, die als unbrauchbar beurteilt wurden, in einer Schlucht ausgesetzt wurden, gehörte für ihn zur „Großartigkeit dieser Schöpfung“ hinzu.

Griechen vs. Perser

Vieles was die Kämpfe der Griechen gegen die Perser in den Jahren 480/479 v. Chr. und die Rolle Spartas dabei betrifft, findet eine Teilerklärung in den militärischen Auseinandersetzungen zehn Jahre zuvor bei Marathon an der nordöstlichen Küste Attikas. Die Spartaner hatten dafür ihre Hilfe zugesagt und bekanntermaßen hat sich der athenische Läufer Pheidippides auf den Weg gemacht, um die 200 Kilometer von Marathon nach Sparta in zwei Tagen erfolgreich zu überbrücken. Doch dann hatten die Spartaner religiöse Bedenken und mochten nicht vor Vollmond aufbrechen. So waren die Athener bei Marathon auf sich allein gestellt. Nur die Hopliten der Polis Plataiai kamen zu Hilfe, man war trotzdem siegreich.

Zehn Jahre später war die Situation eine gänzlich andere. Es gab zwei Verteidigungslinien zu Lande, eine südliche am Isthmos, wo die peloponnesischen Poleis ihre allermeisten Truppen stationiert hatten und eine nördliche an den Thermopylen, die personell zu dürftig ausgestattet war. In der Forschung wird angenommen, dass die Peloponnesier absprachewidrig hier vor Ort zu keinem größeren Engagement mehr bereit waren. Hätte Leonidas aufgegeben und sich mit seinen 300 Spartanern von den Thermopylen zurückgezogen, wäre die Schuld für die Niederlage vermutlich den Peloponnesiern gegeben worden. Einigkeit und Einheit der Griechen wären als Folge schnell zerbrochen. Es war diese uneigennützige Rettungstat, die Simonides von Keos zu seinen unvergänglichen Zeilen inspiriert hat: „Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest uns hier liegen sehen, wie das Gesetz es befahl.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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