Die Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter
Die menschliche Sehnsucht und der Wunsch sich an Jahre zu erinnern, eine Zeit, am besten gleich ein ganzes Zeitalter, das so glanzvoll daherkommt, dass man es golden nennen möchte, sind wohl bald so alt wie die Zivilisation selbst. In der antiken griechisch-römischen Hochkultur beschäftigten sich bereits einige kreative Persönlichkeiten inhaltlich mit diesem Themenkomplex. Die größte Bekanntheit unter ihnen genießt heute wohl noch immer der römische Dichter Ovid – unter dem sittenstrengen Augustus schließlich aus weitgehend im Verborgenen liegenden Gründen in die triste Verbannung ans Schwarze Meer geschickt -, der mit seinen Metamorphosen, den Verwandlungen, eines der literarischen Hauptwerke des Altertum überhaupt hinterlassen hat. Darin ist von einem goldenen Zeitalter, einer aurea aetas, in dem die Menschen wie selbstverständlich in ihre natürliche, fast paradiesische Umwelt integriert und Verbrechen oder Kriege unbekannt waren, ausführlich die Rede. Im nachfolgenden silbernen Zeitalter, an das sich streng hierarchisch ein bronzenes anschloss, herrschte Ovid zufolge kein ewiger Frühling mehr und das Wachstum der Vegetation ließ ebenfalls zu wünschen übrig.
Ein Zeitensprung. Als der 1. Weltkrieg 1918 beendet war, in den Worten des US-amerikanischen Diplomaten und Historikers George F. Kennan die Urkatastrophe des Jahrhunderts, begann man sich in dessen Heimat verstärkt an die – jedenfalls für die wohlsituierten Schichten – unbeschwerten Jahrzehnte vor dem Kriegsausbruch zu erinnern. Als gilded age, als vergoldetes Zeitalter, ist diese Epoche allgemeinen Friedens, florierenden Handels und wirtschaftlicher Prosperität im kollektiven Gedächtnis haften geblieben. Auch im Vereinigten Königreich gedachte so mancher mit Wehmut an die verflossene Zeit. Der Ökonom John Maynard Keynes hat dazu rückblickend bemerkt: „Der Bewohner Londons konnte, seinen Morgentee im Bette trinkend, durch den Fernsprecher die verschiedenen Erzeugnisse der ganzen Erde in jeder beliebigen Menge bestellen und mit gutem Grund erwarten, dass man sie alsbald an seiner Tür ablieferte.“ Ergänzend zum angloamerikanischen gilded age hat man in Frankreich den mehr kulturelle als ökonomische Tatbestände umschreibenden Begriff der Belle Époque geprägt, um wiederum die Lebensart, Annehmlichkeit und Schönheit einer unwiederbringlich verloren gegangenen Vergangenheit auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Für den deutschen Sprachraum schließlich hat vielleicht der in Wien gebürtige Schriftsteller Stefan Zweig den gesellschaftlichen Zustand mit seinen charakteristischen, über den Sorgen und Nöten der einfachen Bevölkerung schwebenden traditionellen aristokratischen und später dazugekommenen wirtschaftsbürgerlichen Eliten, der vor dem 1. Weltkrieg bestimmend war und danach eben nicht mehr am zutreffendsten diagnostiziert, indem er viele Jahre später seinen im Exil verfassten Lebenserinnerungen den Titel „Die Welt von gestern“ verliehen hat.

1. Art déco.
Die Goldenen Zwanziger Jahre
Insofern verwundert es nicht allzu sehr, dass der Ausdruck die „Goldenen Zwanziger Jahre“ eine in nachfolgenden Jahrzehnten vorgenommene Rückprojektion ist. Niemand wäre am 1. Januar 1920 innerhalb des Territoriums des ehemaligen deutschen Kaiserreichs auf die Idee gekommen, es könnte ein glanzvolles Dezennium bevorstehen. Zu stark waren die durch den verlorenen Krieg mit seinen zahllosen Opfern hervorgerufenen Erschütterungen, zu belastend die durch den am 28. Juni 1919 unterzeichneten Versailler Friedensvertrag fixierten Forderungen nach Reparationen. Der bekannte Historiker Martin Sabrow hat daher in diesem Kontext überzeugend von einem im Nachhinein geschaffenen Mythos gesprochen. Speziell aus der Perspektive der Bewohner des nach dem 2. Weltkrieg geteilten Berlin wurde dabei mit Wehmut auf die verloren gegangene Weltgeltung ihrer Stadt in den 1920ern geblickt, als man problemlos mit Paris oder London konkurrieren konnte.
Einstweilen hatte man in der neu gegründeten Weimarer Republik in den frühen 1920ern mit einer immer weiter um sich greifenden Inflation zu kämpfen, die Bürger mit umfangreichen Sparguthaben oder Bargeldvermögen ebenso wie Lohnempfänger alsbald am Hungertuch nagen ließ, wie beispielsweise Hans Fallada in seinen Erzählungen und Romanen mehrfach veranschaulicht hat. Nur wer über Sachwerte wie etwa Immobilienbesitz verfügte, kam einigermaßen unbeschadet über die schwere Zeit. Die grotesken Auswüchse dieser Hyperinflation werden eindringlich am Umtauschkurs von 1 Billion Papiermark zu 1 Rentenmark im November 1923 sichtbar, womit die Währungsprobleme zusammen mit der ab August 1924 eingeführten Reichsmark dann allmählich eingehegt wurden.

2. Nur scheinbar ein schönes Vermögen!
Die Goldenen Zwanziger Jahre begannen also nicht vor dem Jahr 1924, und in der zweiten Oktoberhälfte 1929, als die Auswirkungen des Börsencrashs an der New Yorker Wall Street auch in Europa spür- und sichtbar wurden, gelangten sie unversehens an ihr abruptes Ende.
Die Weimarer Kultur I: Innovationen und Fortschritt
Die Entdeckung von elektromagnetischen Wellen durch Heinrich Hertz in den späten 1880er Jahren führte im Ergebnis nach und nach zum Bau von röhrenbetriebenen Sendeanlagen, die mittels der von ihnen erzeugten Schwingungen im Hochfrequenz-Bereich die Übertragung von Sprache und Musik erlaubten. Die Stunde eines neuartigen Massenmediums, des Radios, hatte geschlagen. Erster Rundfunksender hierzulande war die Funk-Stunde Berlin, gesendet wurde ab dem 29. Oktober 1923 um acht Uhr abends aus dem Vox-Haus in der Nähe des Potsdamer Platzes. Die faszinierten Zuhörerinnen bekamen als erstes Musikstück ein live übertragenes Cello-Solo mit Klavierbegleitung, komponiert von Fritz Kreisler, zu hören. Die Anzahl derjenigen, die sich vom Radio begeistern ließen, stieg rasant von 10.000 im Jahr 1924 bis auf 4 Millionen 1932. Mit anderen Worten: Kurz vor dem Ende der Weimarer Republik verfügte annähernd jeder vierte Haushalt über ein entsprechendes Empfangsgerät.
Doch die 1920er waren nicht nur ein Jahrzehnt des Radios, sondern auch des Kinos oder gemäß des damaligen Sprachgebrauchs des „Filmpalasts“. 1927 gab es in Frankreich 3300, in England 3700 und in Deutschland 4300 Lichtspielhäuser, deren größtes, der 1929 in Hamburg am Gänsemarkt eröffnete Ufa-Palast, bot Platz für 2665 Besucher. Der technische Fortschritt im Bereich der Filmkunst wird vor allem in der in den späten 1920ern von den USA aus einsetzenden Ablösung des Stumm- durch den aufkommenden Tonfilm markiert. Allgemein gilt „The Jazz-Singer“ von Alan Crosland aus dem Jahr 1927 als erster Tonfilm, und in Deutschland stehen wenig später „Der blaue Engel“ unter der Regie von Josef von Sternberg mit einer aufstrebenden jungen Schauspielerin namens Marlene Dietrich – hier noch ganz am Anfang ihrer Weltkarriere – und „Die drei von der Tankstelle“ mit dem damaligen Traumpaar Lilian Harvey und Willy Fritsch für den Beginn einer neuen Ära.
Davon einmal abgesehen sind die Goldenen Zwanziger das Jahrzehnt des Stummfilms. Gerade in Deutschland haben einige Regisseure – vor allem Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau und der gebürtige Breslauer Robert Wiene – mit expressionistischen Meisterwerken wie Das Cabinet des Dr. Caligari (1920), Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (1922), Dr. Mabuse, der Spieler (1922) und natürlich Metropolis (1927) die allgemeine Filmgeschichte nachhaltig beeinflusst. Die von ihnen entwickelte expressionistische Filmsprache mit gespenstischen Schattenwürfen auf Zimmer- oder Hauswänden, den engen und klaustrophobischen Treppenhäusern, der kontrastreichen Beleuchtung und dem symbolhaften Bildaufbau hat einige Jahrzehnte nachgewirkt und übt noch in unserer Gegenwart ihren beständigen Einfluss aus.
Der schon in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg in der Malerei lebendige expressionistische Stil mit seinen ungewöhnlichen Farbkombinationen und der Neigung, Formen bewusst zu verzerren, beides dazu angetan, die hinter dem oberflächlich Sichtbaren verborgenen Emotionen und Ängste freizulegen, hat in der Zwischenzeit durch das für viele daran Beteiligte traumatische Kriegserlebnis eine neue Dimension hinzugefügt. Der Blick auf die menschliche Natur verwandelte sich nunmehr stark ins Abgründige, Erschreckende und bisweilen Monströse. Daher auch die heutzutage etwas befremdlich klingenden Titel einiger der oben angeführten Stummfilme.
Ein Film wie Metropolis mit der ihm innewohnenden scharfen Kapitalismuskritik und der Darstellung einer Gesellschaftsordnung, die in eine dem Luxus frönende Oberschicht und eine unterirdisch an Maschinen schuftende Arbeiterklasse getrennt ist, war natürlich starker Tobak für das zahlende Publikum. Wer sich also lieber vom Nachdenken über derartige inhaltsschweren Sachverhalte ablenken und die vergangenen schwierigen Zeiten abschütteln wollte, fand gerade in der Großstadt zahlreiche weniger anspruchsvolle Vergnügungsstätten in Form von Bars oder Varietébühnen, wie sie aktuell durch eine Serie wie Babylon Berlin popularisiert werden und einen weiteren wichtigen Aspekt der Goldenen Zwanziger Jahre abbilden.
Die Weimarer Kultur II: Wohnungsnot und neue Architektur
Neuartige technische Errungenschaften wie das Radio oder die zunehmende Präsenz von Autos und Motorrädern auf dem Land und in der Stadt dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Menschen ihr Dasein in geradezu grauenhaften Unterkünften fristeten. Der renommierte britische Historiker Ian Kershaw hat in seiner umfassenden Studie über Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Titel Höllensturz darauf hingewiesen, dass sich in den 1920ern immer noch ganze Familien ein einziges Zimmer, um darin zu leben, teilten. Nicht wenige hausten in Elendsquartieren mit primitiven sanitären Einrichtungen.
Abhilfe war dringend zu schaffen. Hatten während der Kaiserzeit öffentliche Ausgaben für Wohnungsbau in kaum nennenswerten Umfang stattgefunden, so war der Wohnungsbau 1929 der Bereich staatlicher Ausgaben, der gegenüber dem Jahr 1913 den größten Anstieg verzeichnete. Im Ergebnis wurden zwischen 1924 und 1930 in Deutschland ungefähr 2,5 Millionen Wohnungen neu errichtet, und gerade in Städten wie Berlin und Frankfurt am Main entstanden große für die Arbeiterklasse bestimmte Wohnsiedlungen.
Ab Mitte der 1920er Jahre kann man in verschiedenen Kunstbereichen – auch in der Architektur – analog zu den politisch und wirtschaftlich gegenüber den Vorjahren stabileren Verhältnissen eine Suche und praktische Umsetzung von Klarheit und Ordnung beobachten, die unter dem Oberbegriff Neue Sachlichkeit mit als überflüssig erachteten Traditionen aufräumte. Ein Walter Gropius ließ sich, während er das Bauhaus schuf, dabei von einer Architekturidee leiten, die Technik und rationelle Planung nutzen wollte, um auf diesem Wege menschliche Not und soziales Elend zu lindern.
Der Internationale Stil nahm hier seinen Anfang, später verbreitete er sich auf der ganzen Welt. Bemerkenswert ist dabei, dass dieser Architekturstil, der global adaptiert und nachgeahmt wurde, in Deutschland seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 entschieden abgelehnt wurde. Der faschistischen Ideologie entsprach eher die Errichtung von Gebäuden, die baukünstlerisch am einschüchternden Neoklassizismus oder der rückwärtsgewandten Heimatschutzarchitektur angelehnt waren. Doch das ist eine andere Geschichte, die zu einem anderen Zeitpunkt zu erzählen sein wird!
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Der kommende Beitrag beschäftigt sich mit philosophischen Strömungen und Richtungen in den 1920er Jahren!