„Wir kommen nie zu Gedanken. Sie kommen zu uns.“ (Martin Heidegger)
Ist es eigentlich legitim, menschliche Kulturen in ihren erkennbar am weitesten fortgeschrittenen Entwicklungsstufen, denjenigen von Hochkulturen, mit biologischen Organismen zu vergleichen und ihnen ein verbindliches Ablaufschema von Kindheit bzw. Jugend, Reife bzw. Blüte, Alter und Verfallszeit zuzuweisen? Hat die westliche Philosophie es tatsächlich bis in die 1920er Jahre hinein verabsäumt, die Seinsfrage so zu stellen, dass nie nach dem Sinn des Seins gefragt wurde?
Mit Oswald Spengler und Martin Heidegger treten in der Zeit der Weimarer Republik zwei Philosophen mit einer Wucht ans Licht der Öffentlichkeit, dass ihre Wirkung selbst einhundert Jahre danach mit lautem Donnergrollen nachhallt. Ganz im Gegensatz zum Schöpfer des Tractatus logico-philosophicus, dem 1889 als Sohn einer großbürgerlichen Wiener Industriellenfamilie geborenen Ludwig Wittgenstein, entstammten sowohl der gleichaltrige Heidegger als auch der neun Jahre ältere Spengler sehr viel bescheideneren Verhältnissen. Und sie kamen aus der tiefsten Provinz: Blankenburg im nördlichen Harzvorland und das in der Region Bodensee-Oberschwaben gelegene Meßkirch bildeten das jeweils kleinstädtisch-ländlich geprägte und jeweils einer Mittelgebirgslandschaft vorgelagerte familiäre Ursprungsmilieu.
Um es gleich vorwegzunehmen: Lupenreine Demokraten sind sie gewiss nicht gewesen. Weder der eine noch der andere. Wie nicht wenige zu ihrer Zeit, die im seit 1871 bestehenden deutschen Kaiserreich sozialisiert wurden, hatten sie ihre Probleme mit der auf den Trümmern der Kriegsniederlage errichteten ersten Republik auf heimischem Territorium. Spengler galt die Volksvertretung, das Parlament, nur als „Biertisch höherer Ordnung“ und die Idee der Volkssouveränität erschien ihm geradezu töricht. Taugt er, der ausgewiesene Antidemokrat, daher als geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus, eine Kritik, die sich zum Teil bis in unsere Gegenwart implizit ebenso auf sein geschichtsphilosophisches Hauptwerk richtet? Verschiedenen Vereinnahmungsversuchen seitens der Nationalsozialisten hat sich Spengler jedenfalls erfolgreich widersetzt und alleine dadurch nicht unerhebliche persönliche Risiken auf sich genommen. Auf eine spezifische Weise war sein Denken am Ende des Tages zu elitär, als dass es mit der plebejischen Attitüde der in unschönes Braun gewandeten vermassten SA-Verbände kompatibel gewesen wäre.
Geschichtszyklen und Hochkulturen
Unter dem Einfluss der Aufklärung, von Kant bekanntermaßen als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit definiert, hat sich allmählich ein sukzessive bis in unsere Gegenwart weiterentwickeltes Welt- und Geschichtsbild etabliert, dem die Vorstellung zugrunde lag und liegt, mit zunehmendem politischen und technisch-wirtschaftlichen Fortschritt würden sich die menschlichen Verhältnisse grundlegend und nachhaltig verbessern. Die Mühen der Vergangenheit könnten abgelegt und im Zeichen eines allgemeinen Siegeszuges von Vernunft und Rationalität einer glänzenden Zukunft entgegengeblickt werden. Diesem linearen Denken über den Verlauf von Geschichte kann die Vorstellung einer bestimmten Zielgerichtetheit, wie sie in manchen religiösen Gemeinschaften und der bisweilen dort vorhandenen Idee des „Jüngsten Gerichts“ als Endzweck von Geschichte besteht, ergänzend an die Seite gestellt werden. Ein derartiges Verständnis, es findet sich gleichfalls in der marxistischen Lehre, wird als teleologisch bezeichnet.
Ganz anders das Verständnis des Verlaufs von Geschichte, wie es Oswald Spengler in „Der Untergang des Abendlandes“ offenbart. Mehr als zehn Jahre hatte er daran gearbeitet, als 1922 endlich auch der zweite Band publiziert werden konnte und das geschichtsphilosophische Hauptwerk des isoliert arbeitenden Privatgelehrten damit komplett war. Kein Gedanke an eine Fortschrittsidee, statt dessen die Wiederkehr des immer Gleichen, Zyklizität. Was Friedrich Nietzsche, neben Goethe der wohl wichtigste intellektuelle Gewährsmann Spenglers, in „Also sprach Zarathustra“ in den 1880er Jahren vorformuliert hatte, „Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins“, konstituiert im „Untergang des Abendlandes“ die entscheidende Grundannahme. Dort heißt es: „Erscheinen die großen Züge der Weltgeschichte dem verstehenden Auge vielleicht immer wieder in einer Gestalt, die Schlüsse zulässt? Und wenn – wo liegen die Grenzen derartiger Folgerungen? Ist es möglich, im Leben selbst – denn menschliche Geschichte ist der Inbegriff von ungeheuren Lebensläufen, als deren Ich und Person schon der Sprachgebrauch unwillkürlich Individuen höherer Ordnung wie „die Antike“, „die chinesische Kultur“ oder „die moderne Zivilisation“ denkend und handelnd einführt – die Stufen aufzufinden, die durchschritten werden müssen, und zwar in einer Ordnung, die keine Ausnahme zulässt? Haben die für alles Organische grundlegenden Begriffe, Geburt, Tod, Jugend, Alter, Lebensdauer, in diesem Kreise vielleicht einen strengen Sinn, den noch niemand erschlossen hat? Liegen, kurz gesagt, allem Historischen allgemeine biographische Urformen zugrunde?“ (S. 3) Noch präziser und eindeutiger gibt sich Spengler im späteren Kontext, wenn er selbstgewiss davon ausgeht: „Jede Kultur durchläuft die Altersstufen des einzelnen Menschen. Jede hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum.“ (S. 144)
Dazu sei kommentierend angemerkt, dass die Antwort darauf, ob nun eine lineare, teleologische, zyklische oder davon unterschiedene Auffassung des Verlaufs von menschlicher Geschichte, des Verlaufs von erlebter Zeit, richtig oder falsch ist, sich eindeutiger Klärung entzieht. Mitentscheidend ist unsere Position, der eigene Standpunkt, den wir im historischen Geschehen einzunehmen glauben. Sind wir – um ein Beispiel aus unserer Gegenwart zu geben – uns sicher, dass wir ein aktuell drängendes globales Problem wie den Klimawandel und seine die gesamte Menschheit, die gesamte Schöpfung beeinträchtigenden schwerwiegenden Auswirkungen kooperativ durch internationale Vereinbarungen wie das 2016 in Kraft getretene Pariser Klimaabkommen wirkungsvoll bekämpfen können, es mindestens versuchen müssen, dann neigen wir linearem Fortschrittsdenken zu. Halten wir die damit verbundene Problematik für zu gewaltig, für nicht lösbar, um sie überhaupt multilateral bekämpfen zu können, ziehen uns deshalb im Ergebnis aus internationalen Verträgen zurück und besinnen uns auf nationalstaatliche Egoismen, indem wir unsere eigene großartige Vergangenheit beschwören, die bitteschön recht bald wiederkommen möge, dann würde man eine zyklische Position einnehmen. Bekannte Beispiele aus der Realität sind die MAGA-Rhetorik („Make America Great Again“) des ehemaligen US-Präsidenten Trump oder die nebulös auf eine Revitalisierung des British Empire gerichteten Phantasien, die in Downing Street gepflegt werden.
Doch zurück zu Spengler und zu den von ihm als wesentlich bestimmten Hauptakteuren in der Geschichte der Menschheit: den Hochkulturen. Als komplexe Gebilde mit differenzierter, eine Vielzahl von Berufen aufweisender Sozialstruktur, treten sie in der Bronzezeit an Euphrat und Tigris sowie am Nil erstmals ins Licht der Geschichte. Die Verwendung der Schrift zur Bewältigung allgemeiner Verwaltungsaufgaben bedeutet eine neue Qualität gegenüber den schriftlos, somit in prähistorischen Milieus verharrenden Ackerbauern in ihren dörflichen Gemeinschaften, wie sie auf verschiedenen Kontinenten seit dem Beginn des Neolithikums zu finden sind. Ebenso die Errichtung von Städten, oft zum Schutz gegen äußere Feinde mit einer Mauer aus Lehmziegeln umgeben. Eindrucksvoll ist noch heute die souverän und frei von Hierarchien gehandhabte und dergestalt auf kulturelle Gleichwertigkeit setzende universalhistorische Perspektive des Geschichtsphilosophen, die explizit gegen jeden Eurozentrismus mit der ihm eigenen Periodisierung Altertum, Mittelalter, Neuzeit in mehreren Passagen des Werks klar Stellung bezieht. Identifiziert werden insgesamt acht Hochkulturen, die im Verlauf ihrer Dauer von jeweils 1000 Jahren die erwähnten Lebensstadien durchlaufen. In der Reihenfolge ihrer Entstehung wird auf die ägyptische, babylonische, indische, chinesische, antike, frühchristlich-byzantinisch-arabische, mexikanische und die abendländisch-faustische Hochkultur verwiesen. Der Übergang der kreativ-schöpferischen Kultur zur als kraftlos und degeneriert empfundenen Zivilisation würde dabei den Beginn der Verfallszeit markieren, ein Stadium, in das das Abendland – der europäische Westen – seit dem 19. Jahrhundert bereits eingetreten sei. Folgt man Spengler, würden wir uns demnach in einer fortgeschrittenen Verfallszeit befinden.
Doch das hieße wohl den Kulturpessimismus auf die Spitze treiben. „De(m) Untergang des Abendlandes“ war bei seinem Erscheinen jedenfalls durchschlagender Erfolg beschieden. In öffentlichen Bibliotheken und privaten Bücherschränken des gebildeten Bürgertums war der alsbald zum geflügelten Wort mutierende Titel allgegenwärtig und die mittlerweile einhundert Jahre währende Rezeptionsgeschichte umfasst ein denkbar weites Meinungsspektrum, dass von ätzender Kritik bis zu götzendienerischer Verehrung reicht. Der bis heute im Zeichen zunehmender geopolitischer Marginalisierung Europas anhaltende Einfluss des Hauptwerkes des 1936 früh verstorbenen Oswald Spengler kann wohl kaum überschätzt werden. Insbesondere der mutmaßlich bedeutendste Universalhistoriker des 20. Jahrhunderts, der großartige Arnold Joseph Toynbee, erweist mit seiner monumentalen in zwölf Bänden von 1934 bis 1961 veröffentlichten Arbeit „A Study of History“ („Der Gang der Weltgeschichte“) seine Referenz. Zu teilweise gänzlich anderen Schlussfolgerungen und Ergebnissen gelangend, war Toynbee gleichwohl stets davon überzeugt, dass viele seiner Ideen von dem ihm an geschichtsphilosophischer Relevanz am nächsten kommenden Oswald Spengler bereits Jahre vorher antizipiert worden sind.
Heidegger
Martin Heidegger war noch ganz am Anfang seiner beruflichen Karriere als an einer Universität tätiger Philosoph, Assistent beim Phänomenologen Edmund Husserl in Freiburg im Breisgau, da sind auch von ihm einige Bemerkungen zu Spengler und seinem epochalen Werk, seinerzeit lag allerdings nur der erste Band vor, im Rahmen einer Vorlesung im Wintersemester 1920/21 mit dem Titel „Einleitung in die Phänomenologie der Religion“ überliefert: „Denn Spengler will die Geschichte zur Wissenschaft erheben und kommt dadurch Interessen entgegen, die sich im 19. Jahrhundert gegen die Alleinherrschaft der Naturwissenschaften anstemmen. Gerade in dem, was Simmel betonte, dass Geschichte immer von einem bestimmten Standpunkt aus geformt wird, sieht Spengler den Mangel der Geschichtswissenschaft. Es gelte, die Geschichtswissenschaft von der historischen Bedingtheit der Gegenwart unabhängig zu machen. Man muss eine kopernikanische Tat durchführen.“ (S.56)
Wie der mehr als 100 Bände umfassenden Gesamtausgabe von Heideggers Schriften zu entnehmen ist, waren bestimmte Grundüberzeugungen zu dieser Zeit bereits ausgebildet. Sie können schwerlich in einigen wenigen dürren Sätzen auf einen allgemeingültigen gemeinsamen Nenner gebracht werden, zeichnen sich jedoch in einer überaus kritischen Einstellung gegenüber dem Begründer der modernen Philosophie, dem 1596 in Frankreich geborenen René Descartes, aus. Descartes, als Mathematiker kommt ihm das bleibende Verdienst zu, die analytische Geometrie begründet zu haben, wird von Heidegger vor allem wegen seiner vermeintlichen Verengung der Philosophie auf reine Erkenntnistheorie und der Zweiteilung der Welt in Geist und Materie abgelehnt. Im Ergebnis seien daraus ein falscher Weltzugang und ein ähnlich falsches Selbstbild des Menschen entstanden. In Band 56/57 stellt sich ein ganzheitlich denkender Heidegger diesen nur scheinbaren Problemen: „Nach der Realität des Umweltlichen zu fragen, dem gegenüber alle Realität bereits eine mehrfach umgeformte und ent-deutete Ableitung darstellt, heißt alle echte Problematik auf den Kopf stellen. Das umweltliche hat seine genuine Selbstausweisung in sich selbst. Die echte Lösung des Problems der Realität der Außenwelt liegt in der Einsicht, dass es überhaupt kein Problem, sondern eine Widersinnigkeit ist.“ (S. 91f.)
1927 war es dann soweit. Mit „Sein und Zeit“, entstanden in der Abgeschiedenheit des Schwarzwaldes, konnte der große Wurf veröffentlicht werden. Wer sich heute mit den französischen Existenzialisten beschäftigt, sich intensiver mit Simone de Beauvoir, Albert Camus oder Jean-Paul Sartre auseinandersetzt, liest etwa bei Sartre in „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“: „Der atheistische Existentialismus, für den ich stehe, ist zusammenhängender. Er erklärt, dass, wenn Gott nicht existiert, es mindestens ein Wesen gibt, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und dass dieses Wesen der Mensch oder, wie Heidegger sagt, die menschliche Wirklichkeit ist. Was bedeutet hier, dass die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, dass der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert.“
Auch wenn Martin Heidegger persönlich seine Probleme mit einer ausschließlich existenzphilosophischen Interpretation von „Sein und Zeit“ hatte, so schmälert das nicht seine überragende Bedeutung für die Existenzphilosophie, indem er nach dem eigentlichen Sinn von Sein gefragt hat. Er hat darüber hinaus einen allgemeinen, global-menschlichen Nerv getroffen, was an den zahlreichen Übersetzungen seines Werkes, die gerade auch in Ostasien in mehreren Fremdsprachen erhältlich sind, deutlich wird. Von welchem westlichen Philosophen können wir selbiges sagen?
In der fundamentalontologischen Untersuchung des Freiburger Philosophenkönigs wird vom Menschen als „Dasein“ gesprochen: „Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch (…) ausgezeichnet, dass es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, dass es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat. Und dies wiederum besagt: Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein.“ (§ 4, S.12)
Das ist sicherlich bei raschem Überlesen nicht wirklich ohne weiteres verständlich, sondern bedarf gründlichen Nachdenkens. Wie auch die sich bald daran anschließenden, im Sprachbild von der „Zeugganzheit“ zum Ausdruck kommenden Wendungen gegen die von zahlreichen Philosophen und Naturwissenschaftlern, um zum Kern der Dinge zu gelangen, angedachte Atomisierung der uns umgebenden Gegenstände. Für Heidegger dagegen konstituieren Schreibzeug, Feder, Tinte, Papier, Unterlage, Tisch eine Ganzheit, deren Eingebundenheit in einen größeren Zusammenhang förmlich zu greifen ist. Alles hängt eben mit allem zusammen, wie schon Alexander von Humboldt festgestellt hat.
Wer zum Abschluss einen Kommentar zu Heideggers berüchtigter Rektoratsrede von 1933 erwartet, all diejenigen muss ich jetzt enttäuschen. Das wird aber an anderer Stelle nachgeholt!
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