Politisches und gesellschaftliches Neuland: Demokratisierung und Frauenwahlrecht in Deutschland

Heutzutage

Was die sich in allgemeinen, gleichen, geheimen, freien und unmittelbaren Wahlen äußernden demokratischen Partizipationsmöglichkeiten hierzulande betrifft, können die Staatsbürger*innen mit Zufriedenheit auf die seit langem eingeübte, wohlvertraute politische Tradition blicken, dass es für alle ab dem 18. Lebensjahr möglich ist, daran teilzunehmen. Aktiv und passiv. Sofern jemand nicht in allzu schwerwiegende Konflikte mit dem Rechtsstaat geraten ist. Auf kommunaler und Landesebene ist es in vielen Fällen bereits zwei Jahre früher machbar.

Sind gegenwärtig immer noch wohlmeinende Appelle von ähnlicher Intensität, wie sie zu Zeiten der Kanzlerschaft Willy Brandts zu hören waren und in der Selbstverpflichtung „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ gipfelten, zu vernehmen? Eigentlich ist davon kaum etwas übrig geblieben. Vielmehr ist die liberale Demokratie westlichen oder nordatlantischen Zuschnitts in der jüngeren Vergangenheit zunehmend selbst unter Beschuss von außen geraten. Ob das polnische Verfassungsgericht um seine Unabhängigkeit von staatlicher Bevormundung bangt, ob ungarische Behörden wie der Rechnungshof oder das Zentrale Amt für Statistik seit 2010 mit Parteigängern Viktor Orbáns besetzt werden, vielerorts macht sich ein ungehemmter Autoritarismus breit. Das ist keineswegs ein ausschließlich europäisches Problem, sondern es lässt sich ebenso in Ländern wie Brasilien oder dem klischeehaft als größter Demokratie der Welt bezeichneten Indien unter Premierminister Modi erkennen. Modi ist der Bharatiya Janata Party (BJP) zuzuordnen, einer Partei, die von gewogenen Kommentatoren lediglich als rechtskonservativ, von Kritikern hingegen als rechtsextrem eingestuft wird. Blickt man über den Atlantik gen Westen und denkt an die nächsten US-Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 dürfen sich auch nüchterne Beobachter die berechtigte Frage stellen, ob die Partei der Republikaner erneut einen populistischen Zauberlehrling als Kandidaten aus dem Hut zaubert, möglicherweise ja wiederum den Altbekannten. Die Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt haben für den hier als Gefahrenherd für die Demokratie identifizierten Autoritarismus Verhaltensweisen benannt, die allgemein als Warnzeichen gelten können. Demnach sollte man sich sehr wohl Sorgen machen, wenn Politiker*innen in Wort oder Tat demokratische Spielregeln ablehnen, politischen Gegnern die Legitimität abgesprochen wird, Gewalt toleriert oder befürwortet wird und die Bereitschaft besteht, bürgerliche Freiheiten von Gegnern, einschließlich der Medien, zu beschneiden. Demokratische Aufbruchstimmung sieht also gewiss anders aus.

Ein Grund mehr um zu schauen unter welchen Rahmenbedingungen und Schwierigkeiten demokratischer Fortschritt in Deutschland und anderenorts in der Vergangenheit überhaupt zustande gekommen ist.

Merkmale einer Demokratie und antike Traditionen

Willy Brandts erwähnter hoffnungsvoller Aufruf mehr Demokratie wagen zu wollen und die Feststellung, dass es so etwas wie demokratischen Fortschritt oder die Ablehnung ebensolcher Spielregeln überhaupt geben kann, verweisen uns auf folgendes: Volksherrschaft ist nichts statisch Gegebenes, sie war und ist ständigen Veränderungen im Strom der Zeit unterworfen.

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1. Was Demokratie bedeutet.

Als ein unverrückbares Wesensmerkmal der modernen Demokratie, gewissermaßen als ihr Gradmesser, gilt neben der Gewaltenteilung, einer Verfassung, einem funktionierenden Rechtsstaat, einer für ihr Handeln und/oder Unterlassen dem Parlament, nicht einem Monarchen gegenüber verantwortlichen Regierung und freien, gleichen, allgemeinen Wahlen, die Beachtung der Menschenrechte, wie sie 1776 in den USA in der Virginia Declaration of Rights und 1789 in Frankreich in der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen als Ergebnis aufklärerischen Gedankenguts erstmals schriftlich erklärt worden sind. In der Antike dagegen kannte man keine Menschenrechte, dennoch werden oft genug die im griechischen Altertum begründeten demokratischen Traditionen im Sinne einer Vorbildhaftigkeit beschworen. Wie ist dieser Widerspruch aufzulösen?

Demokratie ist nie ein flächendeckendes Phänomen gewesen. Eigentlich ist ihr Vorkommen auf nur einige wenige Stadtstaaten, von den Griechen Poleis genannt, beschränkt. Das im Zuge der mittelmeerischen Kolonisationsbewegung von diesen gegründete Syrakus auf Sizilien, das gemeinsam mit dem festländischen Süditalien dem Großgriechenland (= Magna Graecia) genannten Kulturkreis zugerechnet wird, ist während der Zeit von 466 v. Chr. bis 405 v. Chr. für rund 60 Jahre eine Demokratie gewesen. Eingerahmt von vorherigen und nachmaligen politischen Zuständen, die als ältere und jüngere Tyrannis benannt werden und damit unserer Vorstellung von einer Diktatur entsprechen. Bleibt also vor allem Athen, das während des 6. bis 4. vorchristlichen Jahrhunderts, aber auch nicht ununterbrochen, die für uns heute als Vorbild dienenden demokratischen Traditionen ausbilden konnte. Doch wie war es um den Kreis der politisch Berechtigten eigentlich bestellt?

Eindeutig lässt sich eine Tendenz zu mehr Inklusion, zur Erweiterung des Kreises der politisch Berechtigten, feststellen. Im Rahmen von Solons timokratischer Ordnung, dem antiken Vorläufer des im 19. Jahrhundert verbreiteten Zensuswahlrechts, erlangten ab 594 v. Chr. die sogenannten Zeugiten das Recht, in der Volksversammlung abstimmen zu dürfen. Die nach den Pentakosiomedimnoi und den Hippeis dritte Vermögensklasse in Attika war in der Lage zwischen 150 und 200 Scheffel Ertrag an landwirtschaftlichen Produkten zu erwirtschaften. Damit konnte der Zeugit eine Rüstung erwerben, um als schwerbewaffneter Hoplit in der seinerzeit bevorzugten Schlachtordnung einer Phalanx seine Heimat zu verteidigen. Politische Teilhabe war also als Äquivalent an militärische Leistungsfähigkeit geknüpft. Später als 480 v. Chr. die Seeschlacht von Salamis erfolgreich gegen die Perser bestritten worden war, kamen noch die weitgehend besitzlosen Theten, die als Ruderer auf den galeerenartigen Trieren ihren schweren, gefahrvollen Dienst versehen hatten abschließend hinzu. Die Volksversammlung, so hat es der Althistoriker Jochen Bleicken in seinem Standardwerk „Die athenische Demokratie“  eingeordnet, war dabei anders als in Rom nicht eine von mehreren wichtigen Institutionen, sondern als Gesamtheit aller politisch berechtigten Athener war sie geradezu mit dem Staat identisch. Jeder mündige Mann ab 18 Jahren, der in die Liste der politisch Berechtigten eingetragen war, hatte dort die freie Initiative zu einem Antrag jeden Inhalts.

Für die Mitte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts wird in der historischen Forschung für den als Attika bezeichneten Großraum Athen eine Gesamtbevölkerung von maximal 250.000 Personen veranschlagt, von denen das volle Bürgerrecht allerdings höchstens 50.000 Menschen zukam, also nicht mehr als 20 Prozent. Gänzlich ausgenommen von politische Rechten waren die Metöken, so hat man die ökonomisch in Handel und Handwerk wichtigen Personen fremder Herkunft genannt, Sklaven, die als Freigelassene geltenden ehemaligen Sklaven und alle Frauen. Sie stehen für Exklusion.

Im 19. Jahrhundert

Sklaverei und Sklavenhandel gelten heute als verabscheuungswürdig und unter keinen Umständen als hinnehmbar. Den weit überwiegenden Teil der Menschheitsgeschichte wurden zu diesem Thema immer auch davon abweichende Standpunkte vertreten. Das bedeutet noch für das postaufgeklärte 19. Jahrhundert: Wer geschlagen werden durfte, wer nicht seinen eigenen Körper besaß, der wurde mit einer gewissen Konsequenz auch nicht als mündiges Subjekt betrachtet. Insofern erschien es vielen Privilegierten, die sich im Besitz spezifischer politischer Rechte wie etwa des Wahlrechts sahen, undenkbar, Leibeigene, besitzlose Bauern und ebenso auch Frauen als mündige Bürger oder Gleichberechtigte anzuerkennen. Für die Mitte des 19. Jahrhunderts bedeutete dies laut der von der Historikerin Hedwig Richter in „Demokratie. Eine deutsche Affäre“ getroffenen Feststellungen, dass in den USA eine Mehrheit der weißen Männer, etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung, in England, allgemein als Mutterland der modernen Demokratie angesehen und dafür von nicht wenigen bewundert, nur 6 Prozent der Gesamtbevölkerung das Wahlrecht besaßen. Die drei Wahlrechtsreformen von 1832, 1867 und 1884 verbreiterten hier nicht nur die Wählerbasis ganz erheblich, sie entzogen der landbesitzenden Oberschicht schlussendlich auch die Kontrolle über die Zusammensetzung der beiden Häuser des Parlaments, ein Prozess der erst 1911 zum Ende kam, als die Macht des nicht-gewählten aristokratischen House of Lords mit seinen knapp 600 Mitgliedern eingedämmt wurde. Die deutschen Länder, einen Nationalstaat gab es um 1850 noch nicht, lagen durchschnittlich prozentual im Bereich der Werte der USA, Bayern darunter.

Die Jahre 1848/49 sind untrennbar mit den bekannten revolutionären Bestrebungen auf dem Territorium des Deutschen Bundes und den Zusammenkünften des honorigen Paulskirchenparlaments in Frankfurt verbunden. Viele der hier Versammelten wollten einen Bundesstaat – kleindeutsch ohne oder großdeutsch mit Österreich war die alle elektrisierende Frage – schaffen, in dem die Rechte der Einzelstaaten gewahrt blieben. Ob das künftige Staatsoberhaupt mit einem nur aufschiebenden, dem suspensiven oder gar mit dem absoluten Vetorecht gegenüber dem Parlament auszustatten sei, darüber geriet man in Rage. Auch in der Frage nach einem geeigneten Wahlrecht konnte zunächst keine Einigung erzielt werden, da die Liberalen aus Angst vor dem Despotismus der Massen politische Mitbestimmung an Bildung und Einsicht gebunden sehen wollten. Dabei handelt es sich keineswegs nur um eine historische Randnotiz, wenn man berücksichtigt, dass in den USA noch in unserer Gegenwart negative Auswüchse des direkten Wählerwillens durch die vermittelnde Instanz der Wahlmänner verhindert werden sollen. Letztlich konnten sich die Liberalen mit ihren diesbezüglichen Vorstellungen nicht mehr durchsetzen, wie die Abgeordneten der Paulskirche mit ihrem Ansinnen dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone anzutragen wenig später auch gescheitert sind. Die Ambivalenz des Demokratisierungsprozesses hierzulande indes wird daran deutlich, dass wenig später im wichtigsten Einzelstaat Preußen das Ungleichheit manifestierende und bis 1918 gültige Dreiklassenwahlrecht für die Zweite Kammer des Landtags, das Abgeordnetenhaus, eingeführt wurde. Das Abgeordnetenhaus an sich repräsentierte insofern einen Fortschritt, als dass es sich nicht mehr um eine Ständeversammlung, sondern um eine Volksvertretung mit Budgetrecht handelte. Im Kontrast dazu wurde bei den ersten Reichstagswahlen des neu gegründeten deutschen Kaiserreichs im März 1871 ein allgemeines, gleiches Männerwahlrecht für Bürger ab dem 25. Lebensjahr installiert. Außen vor blieben – wie bisher stets – die Frauen.

Frauenwahlrecht

Das Frauenwahlrecht ist hierzulande am 30. November 1918 mit einer Verordnung des Rats der Volksbeauftragten eingeführt worden und konnte von allen Frauen ab dem 20. Lebensjahr erstmals am 19. Januar 1919 bei der Wahl zur Nationalversammlung ausgeübt werden. Soeben hatte Kaiser Wilhelm II. abgedankt und die konstitutionelle Monarchie war damit an ihr Ende gelangt. Neue, in die Weimarer Republik einmündende staatliche Strukturen waren in Vorbereitung. Wollte man etwa unter dem Eindruck des mit dem Waffenstillstand von Compiègne beendeten 1. Weltkriegs, der überall im Land unendliches Leid und unsagbar viele Opfer mit sich gebracht hatte, die Leistungsbereitschaft der Frauen an der Heimatfront während der vergangenen vier Jahre honorieren? Wie bei den Zeugiten und Theten Athens? Der Gedanke, dass Frauenarbeit in Rüstungsfabriken und anderen kriegswichtigen Betrieben neben krankenpflegerischen und karitativen Tätigkeiten nunmehr sein Äquivalent an politischer Teilhabe erfahren habe, hat etwas für sich, greift aber doch viel zu kurz.

Doch warum wurde jetzt realisiert, was die Schriftstellerin Hedwig Dohm mehr als vier Jahrzehnte zuvor im Jahr 1876 mit den Worten, „Die Frauen fordern das Stimmrecht als ihr Recht. Warum soll ich erst beweisen, dass ich ein Recht dazu habe? Ich bin ein Mensch, ich denke, ich fühle, ich bin Bürgerin des Staates,“ postuliert hat? Erstmals weltweit wurde das aktive Frauenwahlrecht 1893 in Neuseeland ausgeübt, in Europa nimmt Finnland 1906 den Vorrang ein. Insofern war die Zeit nunmehr reif dafür.

Speziell in Deutschland sorgte seit Jahrzehnten die Gründung von Vereinen für die Mobilisierung von Frauen und die Schaffung von kommunikativen Plattformen, die auf die seit langem erduldeten und nun eben nicht mehr klaglos hingenommenen politischen und damit gesellschaftlichen Benachteiligungen hingewiesen haben. Zu nennen sind hier der 1865 ins Leben gerufene Allgemeine Deutsche Frauenverein, der 1866 gegründete Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts, besser bekannt als „Lette-Verein“ oder 1894 die mehr als eine halbe Million Mitglieder zählende Dachorganisation: der Bund der deutschen Frauenvereine.

Die Geschichte des Kampfes um Frauenrechte und Durchsetzung von Gleichberechtigung endet hier keineswegs, meine Betrachtungen zum prozessualen Charakter von Demokratisierung und der damit verbundenen Langsamkeit von politischem Fortschritt hingegen schon.

Bildnachweis©1, pixabay.

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