Friedrich Ebert: Ein Sozialdemokrat im höchsten Staatsamt der Weimarer Republik

Als Friedrich Ebert als Sohn eines in bescheidenen Verhältnissen lebenden Schneiderehepaares am 4. Februar 1871 in Heidelberg geboren wurde, war es wenig wahrscheinlich, dass der ihn umgebende familiäre Rahmen dazu geeignet schien, ihn einst ins höchste politische Amt des Landes zu befördern. Noch dazu als unmittelbarer Nachfolger des zumeist in glänzende Uniformen gewandeten und auf theatralische Auftritte bedachten Kaiser Wilhelm II. aus der altehrwürdigen Dynastie der Hohenzollern. Doch das Jahr 1918 und der – für das Deutsche Reich und seine Verbündeten – an sein bitteres Ende gelangende 1. Weltkrieg machten das Unvorstellbare möglich. Die Monarchie hatte endgültig abgewirtschaftet, der eifersüchtig über die Jahrhunderte seine Privilegien hütende Adel im Grunde genommen auch. Artikel 109 der am 14. August 1919 in Kraft getretenen Weimarer Reichsverfassung hat unmissverständlich die Abschaffung aller Standesvorrechte dieser exklusiven um die 60.000 Personen umfassenden Bevölkerungsgruppe bestimmt. Der Typus des ostelbischen Junkers, charakterisiert als rückständiger, bornierter und unkultivierter Gutsherr mit autoritärem Gebaren, die ostpreußischen Rittergutsbesitzer mit ihren ausgedehnten Ländereien und dem repräsentativen Herrenhaus im Zentrum der Anlage: zu viele von ihnen haben unter anderem mit dem selbstsüchtigen Beharren auf dem ungleichen preußischen Dreiklassenwahlrecht zulange persönliche Interessen über das Gemeinwohl gestellt. Zukünftig durften sie ihre bisherigen Adelsbezeichnungen lediglich noch als Teil des Nachnamens verwenden. Das bereits seit dem 19. Jahrhundert aufstrebende urbane Wirtschafts- und Bildungsbürgertum nahm die Kriegsniederlage, das offensichtliche Versagen der bisherigen Eliten, zum Anlass noch mehr als bisher an die Schalthebel der politischen und gesellschaftlichen Macht zu drängen. Weiteren in der Vergangenheit stets politisch Benachteiligten wurde per Einrichtung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts durch den Rat der Volksbeauftragten im November 1918 der Gang zu den Wahlurnen ermöglicht: den Frauen. Die Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 beteiligten dann auf einen Schlag so viele Menschen an den Geschicken des Landes wie noch nie in der deutschen Geschichte. Um der aufrührerischen und revolutionären Stimmung Berlins zu entrinnen, wurde das symbolträchtig humanistische Gesinnung und klassischen Geist wie kein anderer Ort verkörpernde Weimar als Tagungsort bestimmt.

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1. Der Tagungsort der verfassunggebenden Nationalversammlung in Weimar: Das Nationaltheater mit Goethe und Schiller im Vordergrund.

Noch einmal zurück zum ominösen, schicksalhaften Geschehen am 9. November 1918. Ohne von der Verfassung dazu legitimiert zu sein, erklärte Reichskanzler Prinz Max von Baden, ein Cousin des Kaisers, dessen Abdankung. Dieser zog sich unmittelbar daraufhin, von der Gemahlin Auguste Viktoria begleitet, ins niederländische Exil zurück, bei zeitlebens bis 1941 gewährter großzügiger finanzieller Unterstützung. In der Literatur ist von alljährlich bis zu siebenstelligen Beträgen die Rede, die der darbende, notleidende deutsche Staat zu zahlen bereit war. Meinungsforschungsinstitute, die es damals nicht gab (erst recht keine sozialen Medien), hätten dazu gewiss interessante Kommentare von Invaliden, Witwen, Waisen und psychisch geschädigten Kriegsheimkehrern in Erfahrung gebracht. Die Frage, was rechtmäßiger Besitz der Hohenzollern ist und was nicht, beschäftigt bis in unsere Gegenwart Politik, Justiz und die Historikerzunft, wobei die Debatte in den letzten Jahren mit zunehmender Intensität und Härte geführt wird. Am selben Tag, dem 9. November 1918, um die Mittagszeit übertrug Reichskanzler Prinz Max von Baden, wiederum ohne durch die Verfassung dazu legitimiert zu sein, das von ihm bis dahin selbst bekleidete Amt des Reichskanzlers an seinen Nachfolger Friedrich Ebert von den Mehrheitssozialdemokraten (MSPD). Gegen 14.00 Uhr verkündete Eberts Parteifreund der Staatssekretär Philipp Scheidemann aus dem ersten Stockwerk des Reichstagsgebäudes: „(…) Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Die Hohenzollern haben abgedankt.! Es lebe die deutsche Republik! Der Abgeordnete Ebert ist zum Reichskanzler ausgerufen worden. (…)“ Bei aller Aufbruchstimmung darf nicht übersehen werden, dass der hektische Wechsel der Staatsform einen günstigen Einfluss auf die Bedingungen des Waffenstillstands und die Friedensvertragsverhandlungen ausüben sollte, was sich als kapitale Fehlannahme erwies.   

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2. Kaiser Wilhelm II. und die ihn umgebenden Repräsentanten der Obersten Heeresleitung (OHL): Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg (li.) und der Erste Generalquartiermeister Erich Ludendorff (re.).

Wie kommt es jedoch, dass Friedrich Ebert und die von Bismarck vehement bis 1890 verfolgten Sozialdemokraten mit einem Mal eine so prominente Rolle in der nationalen Politiklandschaft spielen konnten? Ein Blick zurück in die Vergangenheit.

Industrialisierung, Arbeiterschaft und Sozialdemokratie

Aktuelle statistische Daten für das Jahr 2019 beziffern den Anteil der Beschäftigten, die hierzulande in Land- und Forstwirtschaft sowie in der Fischerei tätig sind, auf gerade einmal 1,3 Prozent. Im Jahr 1914 betrug dieser Anteil noch 34 Prozent und um 1800 arbeiteten sogar um die 62 Prozent der Deutschen in diesem Bereich. Die ganz offensichtlichen zahlenmäßigen Veränderungen stehen in engem Zusammenhang mit einer Revolution, und zwar keiner politischen, sondern der industriellen. Im stufenweise angelegten wirtschaftlichen Entwicklungsschema des US-amerikanischen Ökonomen und Wirtschaftshistorikers Walt Rostow markiert der mittlere Schritt dabei den sogenannten take-off,, ein beschleunigtes Abheben. In England, dem Mutterland der Industrialisierung, wird der take-off in die 1780er Jahre datiert, für das Territorium des Deutschen Bundes in die 1840er Jahre. Über die Jahre hat sich hier im Zentrum Europas ein schwerindustrieller Führungssektor aus Eisen- und Stahlindustrie, dem Steinkohlenbergbau und dem Maschinenbau etabliert. Letzterer ist noch in der Gegenwart mit knapp 6700 vielfach exportorientierten Unternehmen eine der wichtigsten heimischen Industrien überhaupt.

Als typischer Ort der neuen maschinengestützten Arbeitsweise entsteht die Fabrik. In ihr werden zentralisiert in einer unterschiedlichen Anzahl von Produktionsprozessen von freien Lohnarbeitern unter verantwortlicher Leitung eines Unternehmers möglichst effizient Erzeugnisse hergestellt, die sich auf regionalen und überregionalen Märkten in der Absicht Gewinne zu erzielen, vertreiben lassen. Wer bisher als in der Landwirtschaft Tätiger zum persönlichen Leidwesen saisonalen Schwankungen bezüglich der Nachfrage nach Arbeitskräften ausgesetzt war, mochte ökonomische Chancen in den aufstrebenden neuen Zentren der Industrialisierung etwa im Königreich Sachsen oder der preußischen Rheinprovinz suchen und finden. Jedenfalls war eine Binnenwanderung von erheblichem Ausmaß das Ergebnis solcher Überlegungen. Den sich nunmehr herausbildenden Typus des Industriearbeiters – bei aller Differenzierung zwischen ungelernten, angelernten und gelernten Arbeitskräften und einem damit verbundenen erheblichen Lohngefälle – hat der Historiker Thomas Nipperdey im 1. Band seiner Deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts den Unterschichten und damit nicht dem Bürgertum angehörig zugeordnet. Die Situation am Arbeitsplatz in der Fabrik war oft genug durch Hitze, Lärm, Staub, Enge und unzureichende Lichtquellen bestimmt. Lange Arbeitszeiten – für das Jahr 1870 werden im Durchschnitt um die 78 Wochenstunden geschätzt – und geringe Sicherheitsmaßnahmen erhöhten das Unfallrisiko erheblich. Kinderarbeit war in der Anfangszeit der Industrialisierung nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Eine allgemeine Interessenvertretung gab es viele Jahre nicht.

Vor diesem Hintergrund haben die theoretischen Überlegungen von Karl Marx und Friedrich Engels Gestalt angenommen. Ihrer Auffassung nach, so steht es im Kommunistischen Manifest aus dem Jahr 1848, ist die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften die Geschichte von Klassenkämpfen gewesen. Das Bekenntnis zu Marx, dem leibhaftigen Schreckgespenst jedes Konservativen, jedes Wirtschaftsbürgers, ist fester programmatischer Bestandteil der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht 1869 gegründeten Sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (SDAP), einer der beiden Ursprungslinien der späteren SPD gewesen. Die andere ist auf den 1863 von Ferdinand Lassalle in Leipzig ins Leben gerufenen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) zurückzuführen. Uneins in der Frage, ob die klein- oder großdeutsche Lösung der richtige Weg zum Nationalstaat wäre, schlossen sich ADAV und SDAP vier Jahre nach der Reichsgründung 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) zusammen. Die neue Partei geriet rasch in die Schusslinie des Reichskanzlers Otto von Bismarck, auf dessen Bestreben das von 1878 bis 1890 reichsweit geltende Sozialistengesetz, eigentlich Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, initiiert wurde. Druckschriften und Parteiversammlungen sind dadurch verboten worden und Verstöße dagegen wurden mit Geldstrafen oder Gefängnis geahndet. Untergrund oder Exil waren für diejenigen, denen Parteiarbeit weiterhin am Herzen lag, die unangenehmen Optionen. 

Dass Bismarck beim Thema der Sozialen Frage nicht gänzlich blind, den Anliegen der Arbeiterbewegung nicht vollständig uneinsichtig gegenüberstand, beweisen indessen seine Initiativen in der Sozialpolitik. 1883 kam in diesem Zusammenhang das erste Gesetz zustande, das über die Krankenversicherung. 1884 folgte die Unfallversicherung und fünf Jahre später die Alters- und Invalidenversicherung. Grundlegende Lebensrisiken der arbeitenden Bevölkerung wie etwa das Risiko möglicher Altersarmut waren nicht mehr in das Belieben karitativer Fürsorge gestellt, sondern zur Frage eines nach Beitragsdauer und -höhe gestaffelten Rechtsanspruchs geworden.

Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 kommt es zur Umbenennung der SAP in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Aus der Wahl zum 13. Deutschen Reichstag am 12. Januar 1912, der letzten Reichstagswahl vor dem 1. Weltkrieg und im Deutschen Kaiserreich, geht die SPD mit 110 Parlamentssitzen erstmals als stärkste Fraktion vor dem katholischen Zentrum mit 91 Sitzen hervor.

Friedrich Ebert als Reichspräsident

Am 11. Februar 1919 hat die Weimarer Nationalversammlung den Sattlergesellen und ehemaligen Gastwirt Friedrich Ebert von der SPD zum ersten Reichspräsidenten gewählt. Ein Amt ohne Tradition, das aber qua Verfassung mit einer beträchtlichen Machtfülle ausgestattet war. So besaß der Reichspräsident das Recht zur Ernennung des Reichskanzlers, er war völkerrechtlicher Vertreter des Reiches und militärischer Oberbefehlshaber, konnte den Reichstag auflösen und in Übereinstimmung mit der Regierung Notverordnungen ohne das Parlament erlassen. Das Thema der Notverordnung verweist auf den berüchtigten Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung, der während des Bestehens der Republik rund 50-mal zur Anwendung kam. Friedrich Ebert versuchte mit Hilfe von Notverordnungen die Demokratie gegen Angriffe aus dem linken und rechten politischen Spektrum zu verteidigen. Sein Amtsnachfolger Paul von Hindenburg, in späteren Lebensjahren vom Helden von Tannenberg zum Gerontokraten mutiert, nutzte späterhin Artikel 48 um zunächst ohne und dann gegen den Reichstag regieren zu lassen. So wurde er zum mitentscheidenden Totengräber der Republik.

Doch das heißt den Dingen allzu sehr vorgreifen. Wie Ebert die Amtsübernahme selbst eingeschätzt hat, wird aus einem Brief vom 17. März 1919 an eine ehemalige Nachbarin aus Heidelberg deutlich: „Heute hat mir nun das Schicksal eine Riesenverantwortung aufgebürdet. Verzagen habe ich aber nie gekannt. Ich hoffe bestimmt, dass die Nachwirkungen des entsetzlichen Krieges auf unsere Wirtschaft bald überwunden werden, dass bald wieder Besonnenheit und Arbeitsfreude unser Volk beherrschen.“ Wie der erste Mann im Staat sein Amt ausgeübt hat, welche Eigenschaften ihn charakterisieren, darüber erfährt man in der biographischen Arbeit des Historikers Walter Mühlhausen „Friedrich Ebert“ aus dem Jahr 2018 viel Aufschlussreiches. Als echter Demokrat habe er die Mehrheitsmeinung höher als den eigenen Standpunkt veranschlagt. Er ließ sich durchaus belehren, wenn die Gegenargumente überzeugend waren. Darüber hinaus verstand Ebert es, in Streitfragen als Schlichter aufzutreten. Thomas Mann wusste über ihn zu berichten: „Ein grundangenehmer Mann, bescheiden-würdig, nicht ohne Schalkheit, gelassen und menschlich fest. In seinem schwarzen Röcklein sah ich ihn ein paar Mal, das begabte und unwahrscheinlich hoch verschlagene Glückskind, ein Bürger unter Bürgern, bei Festlichkeiten ruhig-freundlich sein hohes Amt darstellen (…).“

Dabei galt es elementaren Schwierigkeiten und politischen Problemen zu begegnen, sie angemessen zu bewältigen. Konterrevolutionäre Umsturzversuche wie sie sich erfolglos im Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920 ihren Weg zu bahnen suchten, gehörten dazu wie der von Adolf Hitler initiierte Marsch auf die Münchener Feldherrnhalle im November 1923. Die Republik zeigte sich hier durchaus wehrhaft. Der Entschlossenheit und dem gezielten Waffeneinsatz der Bayerischen Landespolizei, einem frühen Vorläufer unserer heutigen kasernierten Bereitschaftspolizei, hatten Hitlers Spießgesellen nicht allzu viel entgegenzusetzen. 1923 war zudem das Jahr, das als Jahr der Hyperinflation mit ihrer Geldentwertung in rasender Geschwindigkeit in die Geschichte eingegangen ist. Damit nicht genug: Wegen vermeintlich unzureichender Reparationsleistungen ist die bereits seit Anfang des Jahres 1923 eingeleitete und bis August 1925 andauende Besetzung des Ruhrgebiets durch Franzosen und Belgier durchgeführt worden.

Dass während Friedrich Eberts insgesamt sechsjähriger Amtszeit neun verschiedene Reichskanzler von ihm ernannt werden mussten, zeigt eindrücklich wie unruhig und unstet es in der Weimarer Republik zuging. Die Gesundheit des gebürtigen Heidelbergers hatte darunter zu leiden. Eine zu spät als solche erkannte Blinddarmentzündung war schließlich ursächlich für den allzu frühen Tod des Friedrich Ebert am 28. Februar 1925 im Alter von nur 54 Jahren. 

Bildnachweis©1,2 pixabay.

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