Das Tessin ist ein Geschenk der Alpen. Das milde mediterrane Klima an der Südseite des Hochgebirges mit seinen jährlich bis zu 2300 Sonnenstunden sorgt gemeinsam mit der landschaftlichen Schönheit vor Ort für Ströme an Touristen, seitdem 1882 der Gotthard-Eisenbahntunnel fertiggestellt worden ist. Literaten wie Hermann Hesse, Alfred Andersch und Max Frisch haben den südlichsten Schweizer Kanton ebenso wie der Historiker Golo Mann zu ihrem Alterswohnsitz erwählt. Abseits der großen Weltpolitik und von einer breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, hat sich das bisweilen mondän daherkommende Lugano, mit gut 60.000 Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt des Tessin, nach Zürich und Genf zum drittwichtigsten eidgenössischen Finanzplatz entwickelt.
Beschaulicher geht es dagegen in Locarno in unmittelbarer Nachbarschaft des Lago Maggiore zu. Das ändert sich allerdings alljährlich für einige Tage im August, und zwar immer dann wenn das Locarno Film Festival die Zuschauer*innen in seinen Bann zu ziehen sucht. Filmschaffende aus aller Welt wetteifern dann darum den begehrten Pardo d’oro, den Goldenen Leoparden, als Anerkennung für ihr Kunstschaffen zu erringen. Und das seit 1946, womit Locarno gemeinsam mit dem tschechischen Karlovy Vary, Cannes, Moskau und Venedig zu den traditionsreichsten und bedeutendsten Filmfestspielen überhaupt zählt.
Der Geist von Locarno
1925 ist es in Locarno dagegen nicht um Kunst und Kultur gegangen, sondern existentielle politische Themen standen im Mittelpunkt einer vom 5. bis zum 16. Oktober andauernden Konferenz, deren in einem umfangreichen Vertragswerk verschriftlichte Ergebnisse für Europa Sicherheit und Stabilität bedeuten sollten – vorerst. Anwesend waren die Außenminister des Vereinigten Königreichs (Austen Chamberlain), Frankreichs (Aristide Briand), Belgiens (Émile Vandervelde), Polens (Aleksander Skrzynski) und der Tschechoslowakei (Edvard Beneš). Die Weimarer Republik hat neben Außenminister Gustav Stresemann mit Reichskanzler Hans Luther noch einen zweiten Emissär aufgeboten, während das Königreich Italien durch Ministerpräsident Benito Mussolini, den Duce, vertreten war.
Um besser einschätzen zu können, worum es den hochrangigen Politikern inhaltlich ging, ist es notwendig, sich die einschlägigen Regelungen des den 1. Weltkrieg formal abschließenden Versailler Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 zum Thema Gebietsabtretungen durch das Deutsche Reich in Erinnerung zu rufen. Der damit einhergehende Verlust an staatlicher Souveränität konnte grundsätzlich auf vier unterschiedliche Arten erfolgen. Präzise definierte Bestandteile deutschen Territoriums sind danach zum einen befristet von den Siegermächten besetzt oder zum anderen dem Völkerbund unterstellt worden, ebenso war es möglich, dass Gebiete entweder nach Volksabstimmungen oder alternativ sofort abgetreten werden mussten.
Im Ergebnis ging Elsaß-Lothringen sofort an Frankreich, das auf diesen Tag seit 1871 sehnsüchtig gewartet hatte, zurück. Jeweils große Teile Westpreußens, der Provinz Posen, des ostpreußischen Kreises Neidenburg, sowie das Reichthaler Ländchen und schmale Streifen Niederschlesiens gerieten ebenfalls unter neue staatliche Hoheit, und zwar derjenigen Polens. Gleichermaßen gelangte auch das Hultschiner Ländchen an die Tschechoslowakei, obwohl sich bei einer freiwilligen Volksbefragung über 90 Prozent der Stimmberechtigten dagegen ausgesprochen haben. Der darin enthaltene Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, ein argumentativer Schwerpunkt des 14-Punkte-Programms des US-Präsidenten Woodrow Wilson, ist offensichtlich und kaum von der Hand zu weisen. Auf dem zweiten Wege einer Volksabstimmung kamen Nordschleswig zu Dänemark und Eupen-Malmedy sowie Neutral-Moresnet, die heutige Gemeinde Kelmis, zu Belgien. Ein Drittel Oberschlesiens dagegen gelangte weniger durch eine Abstimmung an Polen als vielmehr durch einen Beschluss des Obersten Rats der Alliierten. Dem Völkerbund wurden das Saargebiet, die Stadt Danzig mit Umgebung, das Memelland und die Kolonien, die danach an interessierte Siegermächte als Mandatsgebiete weitergereicht wurden, unterstellt. Das Rheinland schließlich ist befristet von den Siegermächten besetzt worden. Geräumt werden sollte bis 1935, was letztlich schon fünf Jahre eher geschah. Eine entmilitarisierte links- und rechtsrheinische Zone von jeweils 50 Kilometer Breite war die Folge.
Es zeichnet sich somit ein sehr heterogenes Wirrwarr an Regelungen ab, in das die Konferenz von Locarno ordnend und weiterentwickelnd einzugreifen gedachte.
Nachdem die schlimmsten Auswüchse der Hyperinflation des Jahres 1923 durch die Einführung der die Währung stabilisierenden Rentenmark beseitigt worden waren, die Reparationsfrage durch den Dawes-Plan vom August 1924 und der darin enthaltenen Maßgabe einer grundsätzlichen Orientierung der Rückzahlungsmodalitäten an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Weimarer Republik sinnhafter geklärt war als zuvor und die Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich und Belgien im August 1925 beendet war, konnte Außenminister Stresemann mit nicht unberechtigter Hoffnung annehmen, dass es zukünftig gelingen werde, Deutschland sukzessive aus der diplomatischen Isolierung zu befreien. Er selbst hat in diesem Jahr 1925 die eigene Position folgendermaßen beschrieben: „Die einzige große Waffe unserer Außenpolitik sehe ich in unserer wirtschaftlichen Stellung, und zwar in unserer wirtschaftlichen Stellung als Konsumentenland, in unserer wirtschaftlichen Stellung als großes Schuldnerland gegenüber anderen Nationen.“ Anders formuliert: Seit Versailles 1919 waren inzwischen sechs Jahre vergangen. Vieles war in Bewegung geraten. Welche Ergebnisse würde Locarno bringen?
Um die Sicherheitsinteressen der westeuropäischen Länder Frankreich und Belgien, aber auch von Deutschland selbst gebührend zu berücksichtigen, wurden vertraglich verbindliche Garantien im Sinne der Bewahrung des Status quo ausgesprochen. Deutschland erkannte seine im Versailler Friedensvertrag festgelegte, aufgrund der weiter oben beschriebenen Gebietsabtretungen neue Westgrenze ohne Vorbehalte an. Jedwede revisionistischen oder revanchistischen Bestrebungen waren damit einstweilen vom Tisch. Jedenfalls in der offiziellen Außenpolitik. Als Garantiemächte dafür traten das Vereinigte Königreich und Italien ein. Sie verpflichteten sich dazu im Falle eines militärischen Angriffs seitens Deutschlands auf Frankreich oder Belgien, dem angegriffenen Staat militärische Unterstützung und Beistand zu leisten. Im umgekehrten Fall ebenso. Für den Fall von dennoch auftretenden Streitfragen oder Unstimmigkeiten wären diese an den Ständigen Internationalen Gerichtshof oder Schiedsgerichte zu verweisen.
Zu einem Ost-Locarno und somit einer abschließenden Klärung von Grenzfragen mit Polen und der Tschechoslowakei ist es gleichwohl nicht gekommen. Dennoch: Die Zeichen der Zeit waren im Oktober 1925 erkennbar auf Entspannung ausgerichtet. Stresemanns Entgegenkommen wurde von den Westmächten wohlwollend aufgenommen, so dass ein Jahr später, am 10. September 1926, die Aufnahme Deutschlands als ständiges Ratsmitglied in den Völkerbund möglich wurde.
Doch bereits wenige Jahre später drehte der Wind. Der federführende Architekt der Völkerverständigung, Gustav Stresemann, Gründer der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP), verstarb am 3. Oktober 1929 in Berlin im Alter von nur 51 Jahren. Nur drei Wochen danach notieren wir am Black Thursday an der Wall Street den Beginn des wohl folgenschwersten Börsenkrachs des 20. Jahrhunderts. Im Gefolge der nun um sich greifenden Weltwirtschaftskrise wird mancherorts das Unterste nach oben gespült. In Deutschland geschieht das in Form eines mittelmäßigen und weitgehend erfolglosen ehemaligen Postkartenmalers namens Adolf Hitler. Nach drei Jahren Diktatur wagt er am 7. März 1936 die militärische Besetzung des Rheinlands. Entgegen den Bestimmungen von Versailles und Locarno. Der wahnwitzige Auftakt umspannender Eroberungsphantasien, dem die Westmächte zu dieser Zeit noch mit dem Konzept des Appeasement begegneten.
Die mit dem Geist von Locarno verbundenen Hoffnungen sind zerstoben. Sie haben sich nicht erfüllt.
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