Als Rom entstanden ist

Alljährlich feiert Italiens Hauptstadt am 21. April Geburtstag, und zwar den eigenen. Farbenfroh kostümierte Tänzer*innen und verwegen bis grimmig dreinschauende Legionäre bevölkern am Natale di Roma zur Freude von Einheimischen und Tourist*innen die Straßen und Plätze der Stadt. Der vor über zweitausend Jahren nach Art eines Universalgelehrten wirkende Polyhistor Varro, eigentlich Marcus Terentius Varro, hat schließlich auf der Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden Chroniken, Listen und Dokumente den 21. April 753 v. Chr. eindeutig als Gründungsdatum Roms bestimmt. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die von Varro genutzten Unterlagen fragmentiert und/oder überformt waren, unbearbeitete originale Schriftzeugnisse zeitnah zur fraglichen Epoche ihm somit nicht zur Verfügung gestanden haben. Da einige andere antike Historiker sich ebenfalls mit dem Ursprung der, in den Worten Tibulls, Ewigen Stadt auseinandergesetzt haben und in den allermeisten Fällen mit ihren Datierungen um das Jahr 750 v. Chr. herum verblieben sind, scheint das Wissen Varros dennoch eher bestätigt als widerlegt zu werden. Würde es denn bei dieser zeitlichen Dimension tatsächlich überhaupt auf drei, fünf oder acht Jahre Unterschied bezüglich des Gründungsdatums ankommen? Und dass Varro nicht der einzige Gewährsmann für die Erzählung von Romulus und Remus und den vorhergehenden Bezug zum untergegangenen Troja ist, lässt ihn insgesamt umso glaubwürdiger erscheinen. Selbst der neben dem Griechen Dionysios von Halikarnassos für die stadtrömische Frühgeschichte maßgebliche Historiker Titus Livius, ein Zeitgenosse des Augustus, widmet sich im ersten Buch seiner berühmten Geschichte vom Aufstieg Roms zur Weltmacht „Ab urbe condita“ der Ankunft einer kleinen Gruppe flüchtender Trojaner in Italien. Der Epiker Vergil endlich hat die Ereignisse rund um die Flucht des Aeneas und seiner Gefährten aus dem brennenden Troja, um nach einer gefahrvollen Seereise und vielen nach Art des Odysseus zu überstehenden Abenteuern in Latium anzulanden, wie zur Bestätigung in der „Aeneis“ dichterisch in Hexameterversen kunstvoll aufbereitet. Doch was davon ist mythische Überlieferung und was die geschichtliche Realität?

Verschiedene Arten den Mythos zu deuten

Viele Erkenntnisse zur römischen Stadtgeschichte haben in den vergangenen Jahrzehnten professionelle archäologische Ausgrabungen zu Tage gefördert, etwa immer dann wenn vor Ort die U-Bahnlinien erweitert oder modernisiert werden mussten. Der früher in Siena, Pisa und Rom lehrende Archäologe Andrea Carandini hat sich dabei als begnadeter Praktiker in der Feldforschung, insbesondere auch am für die Frühgeschichte der Stadt wichtigen Hügel Palatin, hervorgetan, wofür ihn der italienische Staat 2006 mit der Goldmedaille für Verdienste um Schule, Kultur und Kunst ausgezeichnet hat. Doch ebenso hat Carandini theoretisch viel beachtete – allerdings umstrittene – Beiträge veröffentlicht, die ein spezifisches Interesse an der Mythenbildung offenbaren. Tatsächliche geschichtliche Ereignisse und reale Personen, deren Bedeutung so wichtig war, an sie zu erinnern, seien in den mythischen Gründungslegenden Roms überliefert worden. Im Ergebnis hat Carandini gefolgert, dass aus baulichen Relikten wie den auf dem Hügel Palatin befindlichen Pfostenlöchern nebst dem aus dem dort anstehenden Tuff gehauenem Hüttenboden auf Übereinstimmung mit der legendären Romulus-Hütte, deren karge äußere Gestalt aus mit Lehm beworfenen Flechtwerk und einem Strohdach bestanden haben soll, geschlossen werden könne. Damit sei die Gründung Roms in der Mitte des achten vorchristlichen Jahrhunderts als willentliche Handlung einer bestimmten Person, Romulus, belegt.

Einen Ausweg, wie es möglich ist, antike Mythen in ihrem Eigenwert zu würdigen, ohne buchstabengetreu jede getroffene Aussage für bare Münze zu nehmen, hat der britische Altertumsforscher Timothy Peter Wiseman in seiner Arbeit „The Myths of Rome“ vorgeschlagen. Wiseman zufolge sollte man einen Mythos als eine Geschichte definieren, die wichtig für eine Gemeinschaft ist und die wieder und wieder erzählt wird, weil sie für jede Generation ihre identitätsstiftende Bedeutung hat. Dabei könne eine solche erzählte Geschichte historisch, pseudo-historisch oder eben völlig fiktiv sein. Eine derartige Betrachtung ermöglicht den Blick über den vermeintlichen Gründungsakt des Romulus, der sich des Brudermords an Remus schuldig gemacht hatte, als dieser übermütig die Stadtmauer übersprang, hinaus.

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1. Kopie des im Konservatorenpalast befindlichen Originals der Kapitolinischen Wölfin an der Nordecke des Senatorenpalastes.

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2. Der Archäologe Friedrich Matz hat die Entstehungszeit der 75cm hohen und 1,14 m langen Bronzeskulptur in das zweite Viertel des 5. Jahrhunderts v.Chr. datiert.

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3. Die Zwillinge Romulus und Remus sind Hinzufügungen aus der Renaissance.

Latium und Mittelitalien in der Eisenzeit

Vereinzelte Funde von Keramikscherben auf dem Territorium des späteren Rom in der Nähe des Forum Boarium sprechen für eine Besiedlung vor Ort schon für die Bronzezeit im zweiten vorchristlichen Jahrtausend. Es gibt jedoch keine Kontinuität hin zu uns näher liegenden Zeitstufen. Das ändert sich erst mit dem zehnten vorchristlichen Jahrhundert in der Eisenzeit, wobei die entsprechenden Kulturstufen innerhalb Latiums von den Experten als Latial II und Latial III angesprochen werden.

Die schottische Althistorikerin Kathryn Lomas verfolgt in der 2017 im englischsprachigen Original und 2019 in der deutschen Übersetzung vorgelegten Publikation „Der Aufstieg Roms. Von Romulus bis Pyrrhus“ einen Ansatz, der konsequent mit der weiter oben beschriebenen modellhaften Vorstellung bricht, die Gründung Roms sei ein einmaliger, durch einen namentlich bekannten Gründer (=Romulus) vollzogener Akt gewesen. Vielmehr würde der archäologische Befund einen langen Entwicklungsprozess nahelegen.

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4. Die Farnesinischen Gärten im Nordwesten des Palatin vermitteln eine lebendige Vorstellung vom denkbaren Vegetationsreichtum zu allen Zeiten.


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5. Grün soweit das Auge reicht. Ein Tal in Latium rund 100 Kilometer östlich von Rom.

Diese Einschätzung passt zu den Beobachtungen der italienischen Archäologin Francesca Fulminante, die für das späte 9. Jahrhundert v.Chr. dortselbst einen Siedlungskern im Umfang von 54 Hektar im Bereich der Hügel Kapitol und Quirinal und einen zweiten auf dem Palatin im Umfang von 37 Hektar ausgemacht hat. Grundlage und Bezugspunkte dafür sind jüngste Ausgrabungsergebnisse. Im frühen 8. Jahrhundert v.Chr. können dann bereits vier Siedlungskerne identifiziert werden. Im weiteren Verlauf desselben Jahrhunderts passiert etwas, dass auch anderenorts in unmittelbarer Nachbarschaft in Etrurien und Latium festgestellt werden kann: Mehrere eng benachbarte Siedlungen gewannen jeweils für sich an Größe und Umfang hinzu, um schlussendlich zu einer einzigen örtlichen Gemeinschaft zusammenzuwachsen. Die Gegend des späteren Forum Romanum, die für eine dauerhafte Nutzung im Kollektiv trockenzulegen und zu entwässern war, gab den Weg vor, der von den Familienverbänden, den gentes, im Hinblick auf eine kultische, rituelle und politische Gemeinschaft zu beschreiten war. Das seinerzeitige Ende der bis dahin erfolgenden Bestattungen im Forumtal ist jedenfalls in diesem Sinne ausgedeutet worden. Fünfzig Jahre nach Varros traditionellem Gründungsdatum gegen Ende des 8. Jahrhunderts v.Chr. war Rom, ähnlich wie das etruskische Veii und andere Ortschaften Mittelitaliens, eine sogenannte proto-urbane Siedlung. Mehr als ein Dorf, aber immer noch keine richtige Stadt. Der bis zu seiner Emeritierung in Tübingen tätige Althistoriker Frank Kolb, ein ausgewiesener Experte für Fragen rund um die Stadt im Altertum, hat in diesem Zusammenhang sicher zu recht darauf verwiesen, es hätte noch jegliche Urbanität in Gestalt monumentaler öffentlicher Bauten, solider Häuser und gepflasterter Straßen gefehlt.

Die eigentliche Stadtwerdung einschließlich eines Anwachsens des Stadtgebietes auf rund 320 Hektar, der Errichtung großer Privathäuser und zunehmender Aktivität am Ort, an dem später das wichtigste Staatsheiligtum, der Tempel des kapitolinischen Iuppiter entstand, war erst dem Jahrhundert danach vorbehalten.

Bildnachweis©1,2,3,5 pixabay. 4 unsplash.

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