Vergil und die Aeneis

Als der letzte Weltkrieg tobte, die Menschen in Europa und anderenorts von bitteren Entbehrungen und unsagbarem Leid gezeichnet waren, das ersehnte Ende der in den vergangenen fünf Jahren von Abermillionen durchlebten grauenvollen Erfahrungen noch immer auf sich warten ließ, da war in London eine Ansprache zu hören. Kein um das Seelenheil der ihm anvertrauten Gemeinde besorgter Geistlicher, kein an den Durchhaltewillen der Bevölkerung appellierender Politiker, sondern ein weithin bekannter Literat, Dichter und Kulturkritiker stellte im Oktober 1944 die (nur) scheinbar einfache Frage: „Was ist ein Klassiker?“ Besagter T. S. Eliot gab sogleich in den einleitenden Sätzen dem versammelten Auditorium seine Antwort mit auf den Weg: „In der gesamten europäischen Literatur gibt es keinen Dichter, der ähnlich kennzeichnend und vielseitig wie Vergil als Text und Grundlage fürs Gespräch tauglich wäre. Er steht für so vieles in Europas Geschichte, er vergegenwärtigt solch zentrale europäische Werte; und dass er das tut, berechtigt uns dazu, zur Bewahrung seines Andenkens eine Gesellschaft zu stiften. Das Zentrale und Umfassende seiner Gestalt berechtigt auch mich, zu Ihnen zu sprechen.“

Zugegeben: Wohl nirgendwo lässt sich derzeit noch ein Publikum wie dasjenige finden, von dem der in der römischen Kaiserzeit lebende Historiker Tacitus berichtet hat. Als nämlich in einem der zahlreichen zeitgenössischen Theater Verse des zufällig anwesenden und nach Veröffentlichung der Georgica auf dem Höhepunkt des Ruhms befindlichen Vergil vorgetragen wurden, hätten sich die Zuschauer erhoben und den Dichter, seltene Geste gegenüber einem Künstler, wie Augustus persönlich geehrt. Dagegen mag eine aktuelle Vergegenwärtigung und Reflektion abendländischer Urepen, Homers Ilias und Odyssee sowie der Aeneis Vergils, einschließlich der in ihnen geschilderten stets von neuem sich stellenden schwierigen Herausforderungen, die von den Protagonisten permanent zu bestehen waren, jedoch wie ein Spiegel unsere eigene turbulente Gegenwart zum Widerschein bringen. Gegenwart dabei verstanden als sich seriell rasch fortsetzendes, alle paar Monate kumulierendes Krisengeschehen, dessen erfolgreiche gesamtgesellschaftliche Bewältigung doch am ehesten mit kühler Besonnenheit, der notwendigen Gelassenheit und Fortunas gütigem Beistand gelingen wird.

Wer also war der im Jahr 70 v. Chr. in der Zeit der späten Republik in der ländlichen Umgebung des norditalischen Mantua geborene Publius Vergilius Maro, und was hat er mit seinem kunstvoll festgelegten Betonnungsregeln folgenden rund zehntausend Hexameterverse umfassenden Hauptwerk in zwölf Büchern, der Aeneis, zum Ausdruck gebracht? Zwar wissen wir nicht wirklich viel über das Leben des Dichters und Epikers, etwas mehr als die von dem biographischen Schriftsteller Sueton überlieferte Grabinschrift (lat./dt. „Mantua me genuit, Calabri rapuere, tenet nunc / Parthenope; cecini pascua, rura, duces.“/“Mantua gab und Kalabrien nahm mir das Leben, nun birgt mich / Neapel. Ich besang Weiden, Felder, Herrscher.“) ist es indessen schon. Durch seine theoretische Ausbildung in Fächern wie Rhetorik, Grammatik, Philosophie, Medizin und Mathematik wohl bewandert, wird er in der Literatur dennoch als miserabler öffentlicher Redner bezeichnet. Eine ziemlich misslungene Rede bei Gericht wird als anschauliches Beispiel hervorgehoben. Damit ging ihm eine Gabe ab, die als wesentliche Voraussetzung im Rahmen der politischen Karriereleiter bzw. in den Spitzenpositionen der klassischen Ämterlaufbahn, somit des typischen stadtrömischen cursus honorum galt. Die Einziehung des im Familienbesitz befindlichen Landgutes bei Mantua zu Zeiten des von Octavian, Marcus Antonius und Lepidus formierten Zweiten Triumvirats um das Jahr 40 v. Chr. herum hat für Vergil den unwiederbringlichen Verlust der Ursprungsheimat und eine langanhaltende traumatische Erfahrung mit sich gebracht. Auf einer allgemeineren Ebene wird dadurch angezeigt, dass die Neuverteilung von Land an ehemals in Diensten eines Triumvirn befindliche Veteranen, welche die Hauptlast in den Bürgerkriegen trugen, eine höhere Priorität als ansonsten peinlich genau beachtete traditionelle Eigentumstitel der einfachen und/oder republiktreuen Bevölkerung bedeutete.

Aeneas flieht aus dem zerstörten Troja und wird zum mythischen Gründungsvater Roms

Dass Vergil vor diesem persönlichen Hintergrund besonders befähigt war, um das Schicksal eines Zwangsexilierten, wie er selbst einer war, lebensnah dichterisch aufzubereiten, gewinnt dadurch eine zusätzliche innere Stimmigkeit. Wie aber gelang es ihm, seine aufgrund der Enteignung gestörte Beziehung zu Octavian, der ab 27 v. Chr. als Augustus die Staatsgeschicke in der neuartigen Herrschaftsform des Prinzipat gelenkt hat, wieder zu kitten? Welche familiäre Verbindung sollte darüber hinaus zwischen dem Begründer der julisch-claudischen Dynastie und einem mehr als tausend Jahre älteren Trojaner namens Aeneas, gemeinsamer Sohn des Anchises und der Göttin Venus, bestehen?

Am Anfang aller Überlegungen dazu steht im griechischen Mythos das sogenannte Urteil des Paris, des Sohnes des trojanischen Königs Priamos und der Hekabe. Anlässlich einer Hochzeitsfeier unter den olympischen Göttern soll Eris, die Göttin der Zwietracht, einen goldenen Apfel unter das Festpublikum gemischt haben. Es kam deswegen zum Streit zwischen Aphrodite (römisch = Venus), Athene (römisch = Minerva) und Hera (römisch = Juno), die jede für sich Anspruch auf den der Schönsten gewidmeten goldenen Apfel erhoben. Der von Göttervater Zeus zum Schiedsrichter bestimmte Paris erlag anschließend dem Bestechungsversuch Aphrodites, die ihm die Liebe der schönsten Frau der Welt versprochen hat, was nach allgemeinem Dafürhalten Helena, die Ehefrau des Menelaos, König von Sparta, war. Aphrodite konnte somit schlussendlich das Urteil für sich entscheiden, die Bestechungsversuche der beiden anderen Göttinnen hatten sich zu deren Leidwesen im Ergebnis als untauglich erwiesen. Die Entführung Helenas aus Griechenland an die kleinasiatische Westküste nach Troja lässt die beiden im Urteilsspruch des Paris unterlegenen Göttinnen unentwegt auf Rache sinnen, was in beständiger Einflussnahme auf Schicksal und Lebensglück der Protagonisten seinen Ausdruck findet. Es kommt zum Trojanischen Krieg mit dem bekannten Ende von der Zerstörung und Brandschatzung der Stadt nach jahrelanger vergeblicher Belagerung.

Die letzten Stunden der bis dahin widerstehenden Stadt und ihrer Bewohner, deren Diskussionen um das hölzerne Pferd, das den listenreichen Odysseus und seine kampferprobten Gefährten im Inneren unerkannt verbarg, und das flammende Inferno als Bestandteil des Untergangs von Troja werden von Vergil ausführlich im zweiten Buch der Aeneis aus der Perspektive des Aeneas thematisiert. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der trojanische Held bereits nach jahrelanger Irrfahrt durch das östliche und zentrale Mittelmeer an der Nordküste Afrikas, und zwar in Karthago. Karthagos Herrscherin, die schöne Dido, entflammte späterhin als Konsequenz venusischer Einflussnahme in leidenschaftlicher Liebe zu Aeneas, die dieser zunächst auch erwiderte. Nach einiger Zeit obsiegte beim Sohn des inzwischen verstorbenen Anchises allerdings das sich im lateinischen Begriff der pietas offenbarende typisch römische Pflichtgefühl. Er sah sich gezwungen, seine Mission fortzusetzen, Dido verübte Suizid. Die kommende Seereise führte die verbliebenen trojanischen Gefährten endlich an die Küste des mittelitalischen Latium, wo man an Land ging. Nach weiteren Abenteuern, die infolge der Kontaktaufnahme zu der dort siedelnden Urbevölkerung, den Latinern, zu bestehen waren, kam es zur Gründung der Stadt Lavinium durch Aeneas. Durch seinen auch als Iulus bekannten Sohn Askanios wurde zusätzlich Alba Longa, die Mutterstadt Roms, gegründet. Die dynastische Verbindung zu den ausgesetzten Zwillingsbrüdern Romulus und Remus war damit gelegt, der römische Gründungsmythos um eine sagenhafte Vorgeschichte erweitert und präzisiert. Die altrömische Patrizierfamilie der Julier, deren bekanntestes Mitglied Gaius Julius Caesar war, hat sich stets mit großem Stolz auf ihre gemeinsame Abstammung von ebendiesem Iulus und der Liebesgöttin Venus berufen. Durch Caesars Adoption konnte sich Octavian, der spätere Augustus, ebenso als Familienmitglied in dieser dynastischen Tradition wähnen, was ihm in seiner Funktion als Princeps ein noch höheres Maß an Respektabilität und Legitimität einbrachte. 

Dass Augustus den Dichter, der seit Veröffentlichung der Bucolica und der Georgica ein hochberühmter Künstler war, intensiv im Blick hatte, wird allein aus der Tatsache deutlich, dass die Aeneis, die selbst nach zehn Jahren Schaffenszeit noch nicht komplett durchkomponiert war, als Vergil 19. v. Chr. starb, unverzüglich vom Princeps höchstpersönlich in die Hände von zwei weiteren Autoren zur Schlussredaktion gelegt wurde, um das Werk möglichst unverfälscht herausgeben zu können. 

Wie in England die Artussage, in Frankreich das Rolands- und in Deutschland das Nibelungenlied hatten die Römer nunmehr ihr ureigenstes Nationalepos, auf das sie sich zur Vergewisserung der Identität stets berufen konnten, zur Hand. Homer hat in Vergil seinen kongenialen Nachfolger gefunden.

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7. Die im Louvre befindliche aus parischem Marmor Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. geschaffene Venus von Milo.

 Bildnachweis©1,2,6 pixabay. 3,4,5 AdobeStock. 7 unsplash.

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