Karthago

Von Tunis nach Karthago

Wer sich aus dem turbulenten Stadtzentrum von Tunis in Höhe des Hôtel Africa zu Fuß stadtauswärts auf den Weg macht, um am anderen Ende der nach dem Staatsgründer des maghrebinischen Landes benannten Avenue Habib Bourguiba einen Platz in der beliebten Vorortbahn TGM zu ergattern, fährt anschließend gemächlich die am Golf gelegenen kleinen Stationen in Richtung Sidi Bou Saïd ab.

1. Die schwarze Silhouette des Hotel Africa überragt die anderen Gebäude an der Avenue Habib Bourguiba in Tunis.

Zunächst aber geht es schnurgerade über den kilometerlangen Damm, den die früher die politische und territoriale Oberhoheit ausübenden französischen Kolonialherren bereits im 19. Jahrhundert quer durch die als Lac de Tunis bezeichnete Salzwasserlagune angelegt haben. Bald danach ist man in La Goulette. Die durch Federico Fellinis Filmklassiker Achteinhalb und Sergio Leones Italowestern Spiel mir das Lied vom Tod berühmte Schauspielerin Claudia Cardinale ist hier geboren, worauf  Besucher*innen in Gesprächen mit Einheimischen gerne aufmerksam gemacht werden. Früher haben vor Ort sogar großformatige farbige Plakate mit dem Konterfei der kapriziösen Actrice werbewirksam zur Ankurbelung des lokalen Tourismus auf diese Verbindung hingewiesen. Nicht selten hat man noch das durchdringende dumpfe Grollen der Schiffssirene einer den Hafen anlaufenden oder verlassenden Fähre in den Ohren, während die Bahn sich wieder ratternd und ächzend in Bewegung setzt. Der Charakter der durch die Fenster gut sichtbaren urban verdichteten Bebauung beginnt sich stetig zu verändern, aufzulockern je mehr Tunis und La Goulette zurückbleiben. Bald darauf erfolgt ein Zwischenstopp an einer auf den ersten Blick nicht weiter ungewöhnlichen Station namens Carthage Salammbô, doch wir sind am Endpunkt der kleinen Reise mit der Vorortbahn angelangt.

Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert hat den 1862 veröffentlichten historischen Roman Salammbô nach seiner gleichnamigen Titelheldin, der fiktiven Tochter des realen Feldherrn und Staatslenkers Hamilkar Barkas benannt. Die Handlung spielt zur Zeit eines Söldneraufstands nach dem aus Sicht Karthagos verlorenen Ersten Punischen Krieg, also in einer sehr brisanten und für die Bewohner der Stadt gefahrvollen Zeit. Zu Recherchezwecken ist Flaubert persönlich hierher gereist und hat die dabei gewonnenen Impressionen literarisch nach wie vor lesenswert verarbeitet: „Hinter Salammbô stellten sich die Tanitpriester in ihren Linnengewändern auf. Rechts von ihr bildeten die Alten mit ihren Tiaren eine lange goldene Reihe, links die Patrizier mit ihren Smaragdzeptern ein breites grünes Band, während die Molochpriester mit ihren roten Mänteln den Hintergrund wie mit einer Purpurwand abschlossen. Die übrigen Priesterschaften nahmen die unteren Terrassen ein. Das Volk füllte die Straßen, stieg auf die Dächer und stand in dichten Reihen bis zur Akropolis hinauf. Wie Salammbô so das Volk zu ihren Füßen, den Himmel über ihrem Haupte und um sich das unendliche Meer, den Golf, die Berge und den Fernblick in die Binnenländer hatte, da ward sie in ihrem Glanze eins mit Tanit und erschien als Karthagos Patronin, als die verkörperte Seele der Stadt.“  

Heute ist Karthago ein Wohnort der besser Betuchten. Derjenigen, die es sich leisten können, hier zu leben. Ordentlich weiß getünchte Einzelhäuser bestimmen das allgemeine Erscheinungsbild, mehr Grün als bisher auf der Bahnfahrt trägt ebenfalls zu einer angenehmeren Umgebung bei. In den Sommermonaten zur Zeit der Blüte verschönert vielerorts farbenprächtiger roter Hibiskus den Anblick und bildet der allgegenwärtige Jasmin das Hauptelement der olfaktorischen Signatur dieses historischen Platzes nebst der salzhaltigen frischen Meeresbrise. Bis die dramatischen Ereignisse des Arabischen Frühlings, die im Dezember 2010 in Tunesien ihren Anfang nahmen, ihn seines palastartigen Domizils beraubt und ins Exil getrieben haben, hat auch Staatschef Ben Ali hier standesgemäß residiert. In unmittelbarer Nachbarschaft zu den Relikten der Antoninus-Pius-Thermen. Selbst die schon in den 1990er Jahren unübersehbare Präsenz uniformierter Sicherheitskräfte an nahezu jeder Straßenkreuzung wie auch – vorgeblich zivile Anliegen wahrnehmend – ihre allgegenwärtige sonnenbebrillte Variation in dunklen Anzügen konnte der revolutionären Stimmung am Ende des Tages nicht mehr Herr werden. Die Ereignisse nahmen ihren unabwendbaren Verlauf. Wer allerdings aufmerksam die unübersehbaren hohen weißen Mauern, die die schönen weiß getünchten Villen nach außen schützend abgrenzen, beobachtet hat, konnte sehr wohl fast überall die auf den Maueroberkanten eingelassenen gezackten Glasscherben wahrnehmen. Ohne die Dinge künstlich zu übertreiben: Bereits mehr als zwanzig Jahre vor Beginn des Arabischen Frühlings war vermutlich den allermeisten Besitzern und Eigentümern präsentabler Einzelhäuser sehr wohl bewusst, dass die Lage vor Ort aufgrund der weiten sozialen Schere im Land ebenfalls im modernen Karthago eskalieren könnte und vor radikalen Auswüchsen wollte man sich schützen, so gut es eben ging.

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2. Spätsommerliche Hibiskusblüte.

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3. Moderne Wohnbebauung in der Nähe von Karthagos kreisrundem Kriegshafen.

Alles begann mit einer Ochsenhaut

Vorläufer des modernen war das antike Karthago. Präziser ausgedrückt: Einerseits das römische und andererseits das punische Karthago, das von Exilanten aus Tyros, gelegen im heutigen Libanon, gegründet worden war.

Besagte Exilanten werden ihrer Herkunft nach den Phöniziern zugerechnet. Mit den Etruskern Altitaliens teilen sie das Schicksal, keine Literatur im Sinne von Geschichtsschreibung, dramatischer oder epischer Dichtkunst, keine Philosophie an uns überliefert zu haben. Was vor dem Hintergrund, dass die Phönizier bereits im 11. Jahrhundert v. Chr. – möglicherweise auch noch etwas früher – als eine der frühesten Hochkulturen eine Alphabetschrift in Form einer 22 Zeichen umfassenden Konsonantenschrift durch Umformung der noch einige Jahrhunderte älteren protosinaitischen Schrift entwickelt hatten nachgerade paradox anmutet. Sie und niemand anderes waren die diesbezüglichen Lehrmeister der Griechen, die um 800 v. Chr. herum die im Nahen Osten entwickelten Vorgaben adaptierten und um für sie passend erscheinende Vokale ergänzt haben, womit kurz und knapp die Entstehung des Altgriechischen beschrieben ist.

Die Dankbarkeit der Schüler hat sich indessen in überschaubaren Grenzen bewegt. Ihre künstlerische und handwerkliche Könnerschaft beispielweise bei der Herstellung kostbarer Metallgefäße haben die Griechen zu schätzen gewusst und auch zum wohlformulierten  Ausdruck gebracht. Homer spricht anlässlich der Leichenspiele zu Ehren des gefallenen Patroklos in der  Ilias davon: „… ein Silber-Mischgefäß, kunstvolle Arbeit, konnte sechs Maß fassen, an Schönheit aber trug’s den Sieg davon auf der gesamten Erde bei weitem, denn Sidoner voller Kunstsinn hatten’s schön gefertigt. Phoiniker aber hatten’s mitgebracht über das dunkle Meer hin.“ Mit den hier genannten Sidonern sind die Einwohner von Sidon gemeint, der neben Tyros, Byblos und Arwad wichtigsten Stadt in der levantinischen Ursprungsheimat. Derselbe Homer fühlt sich dennoch genötigt, die ob ihrer Kunstfertigkeit so hoch Gelobten aufs Schärfste zu diskreditieren, wie aus der folgenden Passage aus der Odyssee hervorgeht: „… da kam ein Mann an aus Phönizien, der betrügerische Dinge wusste, Halunke der! Der hatte schon viel Übles zugefügt den Menschen! Der hat mich schlau beschwätzt und mitgenommen bis wir kamen nach Phoinike, wo seine Hausbesitzungen und Güter lagen.“ Ein ähnlich heterogenes Meinungsbild findet sich bei römischen Autoren. Zusammenfassend lassen sich die Widersprüchlichkeiten auf den gemeinsamen Nenner bringen, dass sehr wohl spezifischen Talenten und Fähigkeiten merkantiler, nautisch-seefahrerischer und künstlerischer Herkunft ein erheblicher Respekt entgegengebracht wurde, auf der anderen Seite aber Neid, Missgunst und Konkurrenzdenken stets die Oberhand behielten. Geradezu legendär ist der Ausspruch des römischen Politikers Marcus Porcius Cato geworden, mit der er jede seiner Reden im Senat beschlossen haben soll: „Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Carthago zerstört werden muss.“ Doch wann ist die Stadt überhaupt gegründet worden?

Timaios von Tauromenion, ein antiker Historiograph, hat die Jahre um 814 bis 812 v. Chr. als Gründungsdatum Karthagos bestimmt, was in der althistorischen und archäologischen Forschung über viele Jahrzehnte stark angezweifelt worden ist. Bei den zahlreichen Ausgrabungsaktivitäten vor Ort, die insbesondere seit den 1970er Jahren im Rahmen der UNESCO-Kampagne „Pour sauver Carthage“ von verschiedenen Nationen in Zusammenarbeit mit den tunesischen Behörden initiiert worden sind, konnten nämlich keine beweiskräftigen Keramikfunde publiziert werden, die eine Siedlungsanlage vor dem 8. Jahrhundert v. Chr. plausibel gemacht hätten, doch mittlerweile sieht es so aus, als dass naturwissenschaftliche Datierungsansätze mittels der Radiokarbonmethode die chronologischen Feststellungen von Timaios zu bestätigen scheinen. Karthago ist also demnach bereits gegen Ende des 9. Jahrhunderts v. Chr. gegründet worden.

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4. Eingangsbereich zum punischen Wohnviertel im Bereich der Seemauer.

In diesen historischen Rahmen fügt sich der Gründungsmythos um die tyrische Königstochter Elissa, einigen Leser*innen vielleicht als Dido besser bekannt. Besagte Elissa hatte einen schweren Schicksalsschlag zu erleiden, als ihr Ehemann Sychaeus von ihrem eigenen Bruder Pygmalion aus niederen Beweggründen erschlagen wurde. Elissa entschloss sich daraufhin per Schiff zur Flucht über das Mittelmeer. Als sie und ihre Gefährten schließlich an den Ufern des Golfs von Tunis an Land gingen, versprach ihr der dortige Herrscher, sie dürfe so viel Land behalten, wie sie mit einer Ochsenhaut umspannen könne. Also praktisch nichts! Doch die schlaue Elissa ließ sich keineswegs entmutigen und schnitt die Ochsenhaut in derart hauchdünne Streifen, dass sie sorgfältig aneinandergereiht um den Hügel Byrsa passten. Die Grundlage für das später so außergewöhnlich prosperierende, wohlhabende Gemeinwesen war damit gelegt. Noch heute dominiert der Hügel Byrsa den Anblick Karthagos aus der Ferne.

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5. Auf dem Byrsa-Hügel: Die Kathedrale Saint-Louis aus dem Jahr 1890.

Ob sich das Geschehen rund um Elissa so zugetragen haben kann, wie es im Mythos überliefert wird, darf natürlich hinterfragt werden. Unabhängig von der Detailgenauigkeit, die im mittelhochdeutschen Nibelungen- oder im altfranzösischen Rolandslied an so mancher Stelle ebenso berechtigte Zweifel an der Faktizität hervorrufen mag, bleiben dennoch bestimmte historische Grundwahrheiten bestehen.

Eine dieser unbestreitbaren Grundwahrheiten besteht im exploratorischen Beitrag, den die Phönizier im frühen 1. Jahrtausend v. Chr. im östlichen und westlichen Mittelmeerraum auf der Suche nach Rohstoffen und Edelmetallen wie Gold, Silber, Kupfer, Zinn und Blei geleistet haben, um diese in den Heimatstädten zu fertigen Produkten zu verarbeiten und anschließend mit hohem Gewinn zu vertreiben. Zu diesem Zweck sind vielerorts in Spanien, Marokko, auf Sardinien, Sizilien, Malta oder Zypern Handelsniederlassungen in Form von Faktoreien angelegt worden. Von einer regelrechten Kolonisierung im heutigen Sinn wird man dabei kaum sprechen können, dafür war der Umfang der Durchdringung des Hinterlandes zu gering. Kooperation und das Knüpfen von Handelsnetzwerken in der Art der mittelalterlichen Hansestädte Nordeuropas standen dagegen im Vordergrund. Karthago bildet allerdings die Ausnahme von diesem Befund.

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6. Blick von den punischen Relikten Karthagos unterhalb des Byrsa-Hügels über den Golf von Tunis im Abendlicht.

Wie es mit der Geschichte Karthagos in der Zeit der Auseinandersetzung mit den Römern weiterging, davon handelt der kommende Beitrag!

Bildnachweis© 1,6 Pixabay, 2,3,4 Hauke Christen, 5 Unsplash.

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