Cicero, die späte römische Republik und wir

Der Staat (…) ist die Sache des Volkes;

Volk ist aber nicht jede beliebig zusammengewürfelte Anhäufung von Menschen,

sondern der Zusammenschluss einer größeren Zahl,

die durch eine einheitliche Rechtsordnung und ein gemeinsames Staatsziel zu einer Gesellschaft wird.“

Cicero, De re publica I, 39.

Im Hier und Jetzt

Die schrittweise Aushöhlung, ja sogar Verächtlichmachung demokratischen Gedankenguts und die zunehmende Erosion der republikanischen Staatsform sind seit einer ganzen Reihe von Jahren kaum zu leugnende, höchst bedauerliche Begleiterscheinungen im Alltag westlicher Gesellschaften. Und das nicht nur in Einzelfällen. Ob ein aus Mailand stammender Medienunternehmer, dessen politischer Aufstieg bis in die höchsten Staatsämter seit Mitte der 1990er Jahre dem seinerzeitigen Zusammenbruch der traditionellen italienischen Parteienlandschaft aufgrund des Tangentopoli-Skandals im Zuge der Mani pulite-Untersuchungen zuzuschreiben ist, mehr als nur einmal als Amtsträger und vorgeblicher Sachwalter des Gemeinwohls im ureigensten persönlichen Interesse federführend in die Gesetzgebung seines Landes eingegriffen hat. Ob der Regierungspräsident des Regierungsbezirks Kassel, Walter Lübcke, im Juni 2019 aufgrund seines öffentlich bekannten Einsatzes für Flüchtlinge zum Opfer eines Mordanschlags durch einen Rechtsextremisten geworden ist. Oder ob ein zum Präsidenten der Vereinigten Staaten aufgestiegener Star der Reality-TV Szene im Januar 2021 zum Sturm auf das Kapitol aufgerufen hat, was nicht allein von dem renommierten Historiker und Osteuropaexperten Timothy Snyder ganz explizit als Putschversuch gebrandmarkt worden ist.

Der friedliche Konsens, der für die ersten Jahrzehnte nach dem Weltkrieg prägend war und in den nach den Idealvorstellungen von Freiheit, Gerechtigkeit und manchmal auch Gleichheit strebenden homogenen bürgerlichen Gesellschaften westlichen Zuschnitts durchaus ähnliche zeittypische Ausdrucksformen gefunden hat, scheint in seiner altvertrauten Form nur noch eingeschränkt zu bestehen. Wie aus weiter Ferne dringen die Worte Willy Brandts aus seiner Regierungserklärung vom Oktober 1969 immer leiser werdend ans Ohr: „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“ Heutzutage scheint weniger ein Aufbruch zu neuen Ufern der Mitbestimmung als vielmehr die Errichtung wehrhafter, verfassungskonformer Schutzwälle gegen staatsfeindliche Umtriebe und Attacken von außen wie von innen im Mittelpunkt der politischen Agenda angezeigt zu sein. Doch damit nicht genug. Einige namhafte Fachleute wie die US-amerikanische Politologin Barbara F. Walter sehen inzwischen für ihr eigenes Land die sehr konkrete Gefahr eines Bürgerkriegs voraus. Das ansteigende Risiko dafür sieht Walter im Untergraben der demokratischen Institutionen und der daraus entstehenden Instabilität begründet. Es gehe innerhalb der vorhandenen politischen Organisationen immer weniger darum, ob Menschen sich als konservativ, liberal oder links identifizierten. Identität würde zunehmend auf ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit basieren. Einer neueren Umfrage des Magazins „The Economist“ und des Meinungs- und Marktforschungsinstituts „YouGov“ aus dem August 2022 zufolge halten 43 Prozent der US-Bürger*innen einen Bürgerkrieg innerhalb der nächsten zehn Jahre für einigermaßen wahrscheinlich („Two in five Americans say a civil war is at least somewhat likely in the next decade.“) Ein wichtiger Faktor dabei dürften zukünftig anstehende demographische Veränderungen, in diesem Fall der Verlust der weißen Bevölkerungsmehrheit in den USA sein. Die Schätzungen, wann genau das passiert, variieren, soweit das zu überblicken ist, in einer beträchtlichen Spanne zwischen drei und zwanzig Jahren. Weiße Suprematisten würden am Ende des Tages wohl kaum freiwillig das Feld respektive die Schalthebel politischer Machtpositionen räumen!

Natürlich muss dieses Szenario nicht zwangsläufig so eintreten. Einstweilen stehen sich die beiden unterschiedlichen politischen Lager, Demokraten und Republikaner, in Senat und Repräsentantenhaus unversöhnlich gegenüber, nur geeint in der Abneigung der jeweils anderen. Darin erinnern sie an die antike Konstellation, wie sie in der späten römischen Republik inmitten der seit alters her hochgeachteten Institution des Senats im Fall der Optimaten und Popularen sichtbar geworden ist. Cicero hat viele der damit verbundenen schicksalhaften Wechselfälle persönlich erlebt. Einschließlich jahrelanger zermürbender Bürgerkriege, die seinerzeit tatsächlich und nicht nur prognostiziert stattgefunden haben.

Ein neuer Mensch aus Arpinum in Latium

Marcus Tullius Cicero wurde im Jahr 106 v. Chr. in einem ländlichen Flecken namens Arpinum in der Region Latium rund einhundertzwanzig Kilometer südöstlich von Rom geboren. Ganz in der Nähe hat mit Gaius Marius eine weitere entscheidende Persönlichkeit der späten römischen Republik fünfzig Jahre zuvor das Licht der Welt erblickt. Neben dem gleichen Geburtsort liegt eine zusätzliche Gemeinsamkeit in dem Umstand begründet, dass beide, sowohl Cicero als auch Marius, als Angehörige des Ritterstandes, des ordo equester, in einer überaus privilegierten und wohlhabenden Gesellschaftsschicht ihre Aufnahme gefunden haben. Das hätte ihnen aus heutiger Sicht bei hinreichender Eignung und Befähigung von den Voraussetzungen her unschwer die Erlangung eines höheren Staatsamtes ermöglichen sollen. Doch vor mehr als zweitausend Jahren gab es ein bedeutendes, kaum zu überwindendes Hindernis. Die wichtigsten Ämter in Rom wie die der Konsuln, Zensoren, Prätoren und andere mehr wurden von einer hierarchisch noch höher angesiedelten Klasse nahezu exklusiv untereinander aufgeteilt. Die Rede ist von der Nobilität, einer Art von Amtsadel, der sich nach den 367 v. Chr. beendeten Ständekämpfen zwischen Patriziiern und Plebejern aus den Angehörigen dieser zwei Gruppen allmählich herausgebildet hat. Eine stadtrömische Elite vornehmer Familien wie zum Beispiel der Fabier, Claudier, Cornelier also, was galt da schon jemand vom Lande. In den Augen dieser durch Heiratsverbindungen kunstvoll verflochtenen Elite mit ihrer breiten Gefolgschaft, der Klientel, waren Männer wie Cicero oder auch Marius deshalb homines novi, Emporkömmlinge, Aufsteiger, sofern sie denn eine wichtige Magistratur anstrebten. Zwischen dem Jahr 367 v. Chr. und 63 v. Chr., als Cicero mit dem dafür vorgesehenen Mindestalter von 43 Jahren dennoch ins Konsulat gelangte, sind denn auch nur 15 neue Menschen Konsul geworden, was etwa 2,5 Prozent der Gesamtzahl entspricht. Einer der 15 ist der bereits angesprochene Marius gewesen, der in der Zeitspanne von 107 v. Chr. bis 86 v. Chr. insgesamt siebenmal das höchste Amt ausgeübt hat. Eigentlich eine klare Missachtung des Iterationsverbots, da einmal bekleidete Ämter nicht wiederholt von derselben Person besetzt werden durften. Das Annuitätsprinzip wurde zudem verletzt. Doch die Zeiten waren nicht nur turbulent und herausfordernd, sie waren zudem unsicher und gefährlich.

Die Geißel der Bürgerkriege

Die These, dass vieles von dem, was die res publica, in ihren Grundfesten erschüttern sollte, mit Roms rasantem, wohl allzu schnellen Aufstieg zur Vorherrschaft im Mittelmeerraum zu tun gehabt hat, erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich, ist es aber nicht. Um 140 v. Chr. war das ehemalige Hüttendorf am Tiber – vor 600 v. Chr. hätte niemand von einer eigentlichen Stadt sprechen dürfen – politisch in ganz Italien bis auf den äußersten Norden tonangebend sowie auf den großen Inseln Korsika, Sardinien und Sizilien, wo 227 v. Chr. die erste Provinz jenseits des Festlandes überhaupt eingerichtet wurde. Damit nicht genug! Umfangreiche Gebiete auf der iberischen Halbinsel, die illyrische Küstenlinie an der Adria, Griechenland und der Hauptteil des heutigen Tunesien standen ebenfalls unter römischer Kuratel. Erkämpft wurde der territoriale Zugewinn von den üblicherweise unter dem Kommando eines Konsul befindlichen Legionen. Diese rekrutierten sich gemäß traditioneller Wehrverfassung aus römischen Bürgern, die gemäß Zensus zwingend über ein gewisses Mindestmaß an Vermögen verfügen mussten. Mitnichten durfte jedermann Legionär werden. Die auswärtigen kriegerischen Konflikte nahmen indes mit der Zeit immer mehr an Intensität zu, so dass immer mehr Legionäre, von denen so mancher im Zivilleben als selbständiger Kleinbauer sein mehr oder minder auskömmliches Dasein bestritt, immer längere Zeit fern der Heimat verbrachten. Was in der durch und durch agrarisch geprägten Gesellschaft zu dem gravierenden Problem führte, dass etwa dem Anbau von Getreide dienende Felder zusehends in nicht hinreichendem Maße mehr bestellt werden konnten. Kleinbauernhöfe verwahrlosten, verfielen und Großgrundbesitzer kauften günstig auf, die auf der Arbeitsleistung von Sklav*innen basierende Latifundienwirtschaft erlebte ihre erste Blüte.

Zahlreiche Veteranen mitsamt ihren Familien standen auf einmal vor dem Nichts, als letzter Ausweg im Sinne einer Landflucht erschien häufig genug die Abwanderung nach Rom selbst, wo sich alsbald verstärkt eine urbane Unterschicht herauszubilden begann. Hier setzten die Reformbestrebungen des Brüderpaars Tiberius und Gaius Sempronius Gracchus in den 130er und 120er Jahren v. Chr. an. Selbst aus vornehmer Familie stammend, sahen sie die Ungerechtigkeiten und versuchten die von ihnen bekleideten Ämter als Volkstribunen zu nutzen, um mittels Agrarreformen Abhilfe zu schaffen, vorhandene soziale Not zu lindern. Gestützt auf den Rückhalt in der Volksversammlung machte die von den Gracchen angefachte populare Bewegung Stimmung gegen die konservativ jedwede derartige Veränderung verneinende Senatsmehrheit. Die sogenannten Optimaten. Es kam schließlich dennoch zu Gesetzesänderungen, mit dem Ziel eine umfassende Neuverteilung des Landes zu bewirken. Den nach wie vor vorhandenen Widerstand glaubten die Reformwilligen indessen durch mehrfache Verfassungsbrüche, wie die Abwahl eines rechtmäßig sein Vetorecht nutzenden Mittribunen durch die Volksversammlung und den Versuch des Tiberius Gracchus erneut dasselbe Amt auszuüben, überwinden zu können, was sich als Trugschluss erwies. Das Brüderpaar wurde im Abstand mehrerer Jahre von unversöhnlichen Gegenspielern ermordet. Plutarch zufolge ließen dreitausend populare Gesinnungsgenossen ebenfalls ihr Leben. Der die Zügel der politischen Macht weiterhin mit ihm selbst als Zentrum kanalisierende und behauptende Senat griff zur Überwindung der Krise erstmals zu einem der letzten Mittel, indem er den Staatnotstand erklärte, das Senatus consultum ultimum. Die beiden Konsuln wurden dazu ermächtigt, dass sie zusehen mögen, dass der Staat keinen Schaden nehme. Die res publica, der Staat hat sich im Ergebnis gegen die Ambition einzelner durchgesetzt. Doch die Büchse der Pandora war geöffnet. Wer würde sie jemals wieder verschließen können?

Die Heeresreform des popular eingestellten Marius wies jedenfalls in eine andere Richtung. Der unmittelbare äußere Anlass war durch die gegen Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. scheinbar unaufhaltsam von Norden nach Süden vorrückenden germanischen Stämme der Kimbern, Teutonen und Ambronen gegeben, denen mit der herkömmlichen starren Schlachtordnung der Phalanx, entwickelt von den Einwohnern griechischer Poleis in archaischer Zeit, nicht mehr siegreich beizukommen war. Empfindliche Niederlagen waren einzustecken. Wie der Althistoriker Michael Sommer dargelegt hat, wurde nunmehr die ca. 600 Mann umfassende Kohorte zum taktischen Dreh- und Angelpunkt der neu geschaffenen Armee. Oder um den Militärhistoriker Hans Delbrück zu zitieren: „Die Kohorte bleibt in der Hand des Führers, die Führer folgen dem Befehle des Feldherrn.“ Andere Elemente der Neuorganisation bestanden augenscheinlich in der einheitlichen Einführung des Legionsadlers, das Symbol Jupiters, als Feldzeichen, um den Korpsgeist zu stärken. Wolf, Eber, Pferd und Minotaurus verschwanden stattdessen. Bei Aquae Sextiae und Vercellae konnten Roms Legionen 102/101 v. Chr. denn auch diese ursprünglich in Nordeuropa beheimateten frühen finsteren Vorboten der späteren Völkerwanderung entscheidend stoppen und in die Schranken weisen.

Ein weiteres Element der Neuorganisation darf nicht unerwähnt bleiben, weil dadurch das maßgebliche politische Gewicht auf lange Sicht weg vom stadtrömischen Senat und hin zum erfolgreichen, über ihm ergebene Truppenverbände verfügenden Feldherrn verschoben worden ist. Zwar ist die maßgebliche Besitzuntergrenze ab der ein römischer Bürger zum Heeresdienst verpflichtet war über die Jahre ohnehin immer weiter abgesenkt worden, zwar waren grundsätzlich alle männlichen Bewohner der Halbinsel seit der Übergabe Tarents 272 v. Chr. als Teil der inneritalischen Wehrgemeinschaft sowieso dienstverpflichtet, was aufgrund eines minderen Rechtsstatus zum von 91 bis 89 v. Chr. ausgefochtenen Bundesgenossenkrieg führte, der endlich nur wegen der Verleihung des römischen Bürgerrechts durch die Lex Plautia Papiria an alle Bundesgenossen beendet werden konnte. Doch erst die Öffnung der Legionen für Freiwillige völlig unabhängig vom jeweiligen Besitzstatus verbreiterte die Rekrutierungsbasis um einen entscheidenden Faktor. Immer mehr Veteranen waren somit nach dem Ende ihrer Dienstzeit unbedingt auf die Versorgung mit Land durch von sozialer Fürsorge bestimmte Feldherrn angewiesen. Im Gegenzug verfügten mit dem Imperium ausgestattete Feldherrn über eine in unbedingter Gefolgschaft und Treue ergebene Heeresclientel. Dass dieses Band strapazierfähiger war als die Tradition und Sitte der Vorfahren, der mos maiorum, oder Direktiven des Senats bzw. der Konsuln, erwies sich 82 v. Chr. beim Marsch von Lucius Cornelius Sulla, eines ehemaligen hohen und inzwischen verfeindeten Kommandeurs von Marius, auf Rom, bei dem ohne viel Federlesens die geheiligte Stadtgrenze, das pomerium, von bewaffneten Kräften überschritten wurde. Sulla ließ sich anschließend ohne jeden Skrupel für die kommenden Jahre zum Diktator ernennen, ein ungeheuerlicher Vorgang ohne Beispiel in der Geschichte der Republik, und führte mit Hilfe öffentlicher Bekanntmachungen die Verfolgung missliebiger Personen durch, die sogenannten vor allem gegen Anhänger von Marius und Cinna gerichteten Proskriptionen. Viele tausend auf diesem Wege Geächteter verloren nicht nur Hab und Gut, sondern Leib und Leben. Was offiziell als gegen die Popularen gerichtete Restaurierung der Senatsherrschaft im Sinne der Optimaten kommuniziert worden ist, und in Teilen tatsächlich einige Jahre Bestand hatte, war im vordergründigen Ergebnis wiederum ein unerbittlicher Kampf freier Bürger gegen freie Bürger.

Wie stand Cicero, der im Alter von 24 Jahren Zeitzeuge des Marschs auf Rom war, zu den Vorfällen?

Zum Schutze der res publica

Cicero stand da gerade am Anfang seiner beruflichen Karriere, in der er es als herausragender Anwalt mit begnadeten rhetorischen Fähigkeiten zu allgemeiner Bekanntheit und Popularität gebracht hat. 70 v. Chr. schließlich, nachdem er zuvor im Amt des Quaestors als eine Art von Finanz- und Verwaltungsfachmann im Westteil Siziliens mit der ihm eigenen Objektivität nicht nur im Interesse Roms, sondern auch mit tiefem und eingehenden Verständnis für die Sorgen und Nöte der Provinzialen gewirkt hatte, kam es in Rom zum Prozess gegen Gaius Verres, einen Angehörigen der Nobilität und ehemaligen Statthalter der Provinz Sizilien. Verres hatte zum Leidwesen aller davon Betroffenen seine dortige Amtsführung als Lizenz zum Ausplündern und anderer verbrecherischer Akte mehr begriffen. In den „Reden gegen Verres“ hat Cicero sein Verständnis der beschämenden Angelegenheit offenbart: „So zerrüttet sind die Verhältnisse: charakterlose Menschen geben all ihrer Willkür Spielraum, das Volk murrt täglich lauter, die Gerichtshöfe sind bestochen, der ganze Stand in der öffentlichen Achtung gesunken – da sah ich die einzige Abhilfe für so viel Übelstände in dem selbständigen Eintreten fähiger, unbescholtener Persönlichkeiten für Gesetz und Recht. Um der Nation im ganzen aufzuhelfen, versuche ich den Staat an seiner wundesten Stelle zu behandeln. Soviel über die Veranlassung zu meinem Schritte; nun zum Gegenstand unseres Streites, damit ihr für die Auswahl des Klägers die rechten Gesichtspunkte gewinnet. Meine Grundanschauung ist folgende. Wenn bei einem Prozesse wegen Erpressung mehrere sich zur Übernahme der Anklage melden, so muss man zweierlei herauszubekommen suchen: erstens, wen der geschädigte Teil am meisten und zweitens, wen der Urheber des Schadens am wenigsten wünscht. Im vorliegenden Falle, finde ich, ist beides sehr klar; dennoch muss ich mich über beides verbreiten und zwar zuerst über das wichtigste: die Gesinnung der Geschädigten, um derentwillen dieser Erpressungsprozess geführt werden soll. Gaius Verres, so heißt es, hat drei Jahre lang die Provinz Sicilien verwüstet, die Gemeinden ruiniert, die Häuser ausgeraubt, die Tempel geplündert. Aus ganz Sicilien sind die Kläger erschienen; sie kennen mich als einen zuverlässigen Menschen und wenden sich Hilfe suchend durch meine Vermittlung an euch und an Roms Gesetze; ich soll ihnen zu ihrem Rechte verhelfen, ihnen Genugtuung verschaffen, sie bei den Behörden vertreten, mit einem Worte: die ganze Sache führen.“ 

Philosophisch war Cicero vorrangig von der Skepsis und vom Stoizismus beeinflusst. Die Skepsis ging grob verallgemeinert von der Vorstellung aus, dass es der Sinneswahrnehmung des Menschen nicht möglich sei, das Wahre zu erkennen, sondern nur das Wahrscheinliche. Durch akribisches Forschen, Prüfen und Vergleichen wäre es immerhin möglich zum Glaubhaften vorzudringen. Der Stoizismus war dagegen von den Idealvorstellungen des Maßhaltens, der Selbstdisziplin, der Unerschütterlichkeit und der Bändigung der Leidenschaften bestimmt und passte von daher gut zur traditionellen römischen Lebensart der Einfachheit und Härte gegen sich selbst und andere. Als durchaus typische Geisteshaltung haben derartige Dispositionen ihren künstlerischen Ausdruck im Hyperrealismus des zeitgenössischen Porträts, der Bildnisbüste gefunden.

Vor diesem theoretischen Background, der durch umfangeiche Bildungsreisen nach Griechenland und in den ostmediterranen Raum vervollständigt und erweitert worden ist, beeindruckt die Persönlichkeit Ciceros in Theorie und Praxis heute immer noch. Praktisch während seines Amtsjahrs als Konsul 63 v. Chr. durch die erfolgreiche Niederschlagung der zu Lasten der res publica durchgeführten Verschwörung des Catilina und seiner Spießgesellen. Theoretisch im nie innehaltenden Eintreten für das Gemeinwesen, den Staat. In Ciceros staatstheoretischen Schriften – anders als Platon in der Politeia hat er nie dem Ideal eines Philosophenherrschertums nachgehangen – ging es immer ideal und real um die Mischverfassung, wie sie vorbildhaft in Rom verwirklicht worden ist. Der Senat hat dabei der zugrunde liegenden Vorstellung nach das aristokratische Element, die Konsuln das monarchische und die Volksversammlung das demokratische Element abgebildet. Mit Nachdruck ist er gegen jede Form der Alleinherrschaft in „De re publica“ eingetreten: „Sobald sich nämlich dieser König zu einer ungerechten Gewaltherrschaft wendet, entsteht sogleich der Tyrann, das scheußlichste, schmutzigste und Göttern und Menschen verhassteste Lebewesen, das sich überhaupt denken lässt. Obwohl von Gestalt ein Mensch, übertrifft er doch durch die Ungeheuerlichkeit des Charakters die ungeschlachtesten Untiere. Denn wer könnte den mit Recht einen Menschen nennen, der zwischen sich und seinen Mitbürgern, der schließlich mit dem ganzen Menschengeschlecht keine Gemeinschaft des Rechtes, keine Verbundenheit in der Menschlichkeit haben will?“ 

Doch das Alleinherrschertum war im unaufhaltsamen Vormarsch, die mehr als 450jährige Republik bereits im fortgeschrittenen Niedergang begriffen. Cicero geriet sehr bald nach dem Tode Caesars erneut mitten in die Händel der verschiedenen Parteiungen. Die Schergen des Marcus Antonius bereiteten seinem Leben 43 v. Chr. auf grausame Weise das Ende.

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