Römische Religion
Den Römern ist die mit geradezu wissenschaftlicher Akribie betriebene Erforschung des göttlichen Willens ein stetes Anliegen gewesen. Neben den hierarchisch an der Spitze des Pantheon, des Götterhimmels, befindlichen zwölf olympischen Hauptgöttern, deren Gunst und Wohlwollen man erstrebte, galt es ebenso die Heerscharen anderer göttlicher Kräfte nicht gegen sich aufzubringen, nicht zu erzürnen. Von dieser staatstragenden offiziellen Linie war im Sinne einer fehlenden Privatheit das eigene Zuhause keineswegs ausgenommen. Schließlich wirkten hier die mit den vergöttlichten Seelen der verstorbenen Vorfahren gleichgesetzten Laren, die Schutzgeister der Familie. Gemeinsam mit den vom mythischen Ahnherrn Aeneas aus dem brennenden Troja geretteten Penaten, denen eine besondere Zuständigkeit gegenüber Vorratskammer und Herd oblag. Aber wie gelang es den Anhängern dieser in unseren Augen heidnischen Religion, die von den Anfängen Roms an bis zum Verbot de iure durch Kaiser Theodosius in den 390er Jahren und zur de facto Liquidierung durch Kaiser Justinian in der Mitte des 6. Jahrhunderts fortexistierte, eigentlich Verbindung zum Göttlichen aufzunehmen? Denn ein Glaubensbekenntnis wie in den großen monotheistischen Weltreligionen der Gegenwart gab es nicht, es gab weder heilige Schriften oder Bücher noch theologische Lehrsätze in Form eines unbedingt zu befolgenden Dogmas.
Ein umso größeres Gewicht kam daher den peinlich genau zu beachtenden rituellen Praktiken, den korrekt gemäß der Tradition und der Sitte der Vorfahren ausgeübten Opferhandlungen zu. Wer hier alles formal richtig vollbrachte, dem würden die Götter anschließend helfend zur Seite stehen, ihren Teil der Übereinkunft erfüllen, so hoffte man. Individuelle Glaubenstiefe war dagegen kein Kriterium.
Worauf die Römer immer mit großem Stolz zurückgeblickt haben, die Begründung der republikanischen Staatsform, wurde erst möglich, nachdem der letzte monarchische Alleinherrscher Tarquinius Superbus, ein Etrusker, um 509 v. Chr. aus der Stadt vertrieben worden war. Der bis dahin von den ursprünglich in der heutigen Toskana beheimateten Etruskern auch an den Ufern des Tiber und im übrigen Latium gegenüber den südlichen Nachbarn ausgeübten politischen Dominanz korrespondierte eine u. a. auf den Feldern der Metallherstellung und Keramikproduktion deutlich sichtbare kulturelle Überlegenheit. Spätere lateinische Autoren wie Varro, Cicero oder Plinius beziehen sich mit den von ihnen angestellten Überlegungen zur Etrusca disciplina jedoch nicht auf politische, wirtschaftliche oder kulturelle Themen, sondern auf religiöse. Etruskische Kompetenzen in der Mantik, der Erforschung des göttlichen Willens aus Zeichen, wurden in der römischen Literatur sachkundig aufgezeigt.
Aus der Art und Weise wie die Vögel sich während des Fluges verhielten, welche Richtungswechsel beispielsweise eingeschlagen wurden, ließen sich von besonders geschulten, speziellen Kollegien angehörigen Priestern zumeist etruskischer Provenienz, den Auguren, wichtige Informationen, die auspicia, etwa bezüglich des zeitlich richtigen Beginns oder der notwendig werdenden Verschiebung eines bevorstehenden Feldzugs gewinnen. Die haruspices, die Eingeweideschauer, konnten der Opfertieren entnommenen Leber ebensolche Erkenntnisse abringen. Für den Fall organischer Anomalien zeigte sich darin eben das Missfallen der Gottheit und dringende Abhilfe war durch Sühneriten zu schaffen. Bei der ars fulguratoria ging es schließlich um die sachgerechte Interpretation von Himmelszeichen in Form von Donner und Blitzen und den sich für die Menschen oder das Staatswohl daraus ableitenden Konsequenzen.
Der Podiumstempel
Die zu Ehren der verschiedenen Götter zumeist mit einem Grundriss in Rechteckform erbauten Tempel waren keine Versammlungsräume wie es die heutigen Kirchen, Moscheen oder Synagogen sind. Vielmehr fungierte ihr Inneres, die Cella, als Aufbewahrungsstätte des aus kostbaren Materialien angefertigten Kultbildes derjenigen Gottheit, der der Tempel gewidmet war. Der wichtigste Tempel Roms wie des ganzen Imperiums hat sich mitten im Zentrum der Ewigen Stadt auf dem Kapitolinischen Hügel befunden und war ein der sogenannten Kapitolinischen Trias geweihtes Heiligtum, wobei Iuppiter Optimus Maximus, Iuno und Minerva mit der hier vor Ort verehrten Trias gemeint sind. Der mit einer Grundfläche von 62m x 54m versehene Sakralbau ist gegen Ende des 6. vorchristlichen Jahrhunderts errichtet und in den Bürgerkriegswirren zur Zeit Sullas 83 v. Chr. durch ein Feuer zerstört worden. Von daher haben wir vom ersten Kapitol, wo alljährlich mit einem feierlichen Opfer auf einem davor befindlichen Altar der Amtsantritt der beiden Konsuln und der Abschluss von Triumphzügen festlich begangen worden ist, nur eine ungefähre Vorstellung.
Sehr viel mehr Aufschlüsse über die Eigenarten römischer Sakralarchitektur erlauben dagegen die heute immer noch existierenden und im Kern unbeschädigt gebliebenen Beispiele von Podiumstempeln über die wir aufgrund glücklicher Umstände verfügen. In Rom selbst ist das der um 100 v. Chr. auf dem Forum Boarium, dem alten Rindermarkt, errichtete spätrepublikanische Tempel des Hafengottes Portunus. In der gallischen Provinz sind dies vor allem der Tempel des Augustus und der Livia in Vienne (Vienna) und die Maison Carrée in Nimes (Nemausus).
a.) Maison Carrée in Nimes (Nemausus)
Es ist ziemlich sicher der temporären Verwendung des „rechteckigen Hauses“ als Kirche in der Spätantike zu verdanken, dass dieser Tempel seinerzeit der sonst so oft an heidnischen Gebäuden praktizierten Zerstörungswut weitgehend unbeschadet entging. Errichtet worden ist die Maison Carrée sehr wahrscheinlich in den Jahren nach 20 v. Chr., und zwar auf eine Entscheidung des damaligen Statthalters Marcus Vipsanius Agrippa, des fähigsten Generals und treuen Weggefährten von Augustus, hin. Die verloren gegangene, gleichwohl überzeugend rekonstruierte Inschrift mit dem Text, „Dem Gaius Caesar, Sohn des Augustus, Konsul; dem Lucius Caesar, Sohn des Augustus, gewählter Konsul, den Ersten der Jugend“, weist jedenfalls eindeutig auf die verstorbenen Söhne Agrippas, die gleichzeitig Adoptivsöhne von Augustus waren.
Auf ihrem 2,8m hohen Podium hat die Maison Carrée den umliegenden zentralen, ganz der Tradition und römischen Lebensart entsprechenden Markt- und Versammlungsplatz, das Forum, überragt. Gemäß dem vorherrschenden und in den verschiedensten Bereichen der Baukunst begegnenden Prinzip der Frontalität genoss die Vorderansicht gestalterische Priorität. Der typologisch als Pseudoperipteros anzusprechende Sakralbau mit einer Grundfläche von 26,4 Metern Länge und 13,5 Metern Breite verzeichnet an der Front sechs und an den Seiten elf jeweils mit einem korinthischen Kapitell versehene Säulen, die entlang der Cellawand als Halbsäulen ausgeführt sind.

2. Entlang der Cellawand sind die Säulen als Halbsäulen ausgeführt.
Was die Maison Carrée mit all ihren typisch römischen Eigenarten wiewohl als klassisch erweist, ist die im kleinen wie im großen vorhandene, offen zu Tage tretende Dreiteilung der Bauglieder: Auf dem Unterbau, dem Podium, erhebt sich die für einen Tempel kanonische Säulenstellung, woran sich die Gesamtheit der horizontalen, auf dem Kapitell aufliegenden und den darüber befindlichen Dachaufbau tragenden Bauglieder anschließt, das sogenannte Gebälk. Dieselbe Dreiteilung begegnet bei Betrachtung jeder einzelnen Säule wieder: Auf die Basis folgt der im vorliegenden Fall kannelierte Säulenschaft, der anschließend von einem korinthischen Kapitell bekrönt wird.

3. In der Vorhalle (Pronaos): Blick hinauf zur Kassettendecke.
Durch den im ersten vorchristlichen Jahrhundert wirkenden Architekturtheoretiker Vitruv sind wir in den Grundzügen auch über die Arbeitsweise damaliger Architekten informiert. Das Anfertigen von Grundrissplänen, von Aufrisszeichnungen und perspektivischen Darstellungen des geplanten Objektes gehörte – wie heute – ganz selbstverständlich dazu. Wichtig war Vitruv zudem das Thema der richtigen Proportionierung, d. h. das Größen- und Maßverhältnis der einzelnen Bestandteile eines Bauwerks zueinander. Ordinatio, Eurythmia und Symmetria finden wir an der Maison Carrée aufs Anmutigste verwirklicht.
b.) Tempel des Augustus und der Livia in Vienne (Vienna)
Gut 200 Kilometer nördlich von Nemausus befindet sich das ebenfalls zur Provinz Gallia Narbonensis gehörige, verkehrsgünstig an der Rhone gelegene Vienna. Nur unwesentlich jünger als sein Pendant in Nimes ist der hier aus Kalkstein errichtete und inschriftlich Augustus, seiner Frau Livia sowie Roma, der Personifikation der Stadt am Tiber, geweihte Sakralbau im letzten Jahrzehnt vor der Zeitenwende entstanden. Mit einer Länge von 27 Metern, einer Breite von 14,25 Metern und einem 2,75m hohen Podium stimmt er von den Ausmaßen her mit dem geringfügig älteren gallischen Vorläufer weitgehend überein.

Sorgsam, in immer gleichem Abstand, dem Joch, an der Cellawand aufgereihte Halbsäulen sucht man in Vienne allerdings vergebens. Die jeweils sechs Säulen an den Langseiten könnten, wenn der Blick ganz langsam von der Vorderfront nach hinten schweift, sogar zunächst an einen griechischen Ringhallentempel (Peripteros) mit vollständig umlaufendem Säulenkranz denken lassen, wenn nur der hintere Abschluss nicht wäre. Zwei Pilaster in flachem Relief rahmen das an dieser Stelle aufgehende Mauerwerk ein und führen damit zu einer typologischen Einordnung als Pseudoperipteros.

Der auf dem Forum von Vienna gelegene Tempel ist, so wie wir ihn heute sehen, in zwei unterschiedlichen Bauphasen entstanden, neben der ersten kurz vor der Zeitwende einer zweiten durch ein Erdbeben oder Feuer verursachten um das Jahr 40 n. Chr. Die Cella im westlichen Bereich ist dagegen als Ergebnis einer im 19. Jahrhundert notwendig gewordenen Restaurierung zu betrachten. Der gute Erhaltungszustand insgesamt ist dem Umstand zu verdanken, dass der Tempel des Augustus und der Livia vom Frühmittelalter an bis zur Französischen Revolution durchgängig als Pfarrkirche genutzt worden ist.
Der Podiumstempel als Mischform
Die Römer hatten keine Vorbehalte darin, sich kulturell fremdartiger Architekturformen sinnvoll zu bedienen, das für ihre Zwecke passende, zuträgliche aus Bautraditionen anderer Völker zu übernehmen. Dabei war die Begegnung mit nicht am Tiber ansässigen Kulturen geradezu zwangsläufig, je mehr zunächst die inneritalische Expansion und danach das Ausgreifen rund um das Mittelmeer ganz sprichwörtlich an Boden gewannen. Im Ergebnis überrascht es daher nicht, dass überall wo römische Provinzen eingerichtet wurden und in der Folge römische Lebensart sich intensiver auszubreiten begann, die einschlägigen Architekturmodelle im Anschluss ebenso in der Lage waren eine neue Heimat zu finden. Zwei Beispiele, eines aus Afrika, das andere aus Asien, mögen diesen Sachverhalt, wie er anhand des Triumphbogens im vorhergehenden Beitrag bereits festgestellt werden konnte, illustrieren.

6. Im tunesischen Sbeitla (Sufetula) wurden drei Podiumstempel um 150 n. Chr. nebeneinander angelegt.

Die Beantwortung der Frage nach der Herkunft des „typisch römischen Podiumstempel“ lässt sich insofern klar präzisieren, als dass in ihm Komponenten der etruskischen und griechischen Bautradition eine ästhetisch ansprechende, gelungene Verbindung eingegangen sind. Der Archäologe Wilhelm Osthues hat in diesem Zusammenhang von einem hybriden Entwurfsmuster mit erheblichen Freiheitgraden gesprochen. Etruskischen Ursprungs ist dabei das Podium mitsamt vorgelagerter Freitreppe. Archäologische Befunde aus dem sechsten und fünften vorchristlichen Jahrhundert, die in den dem Zwölfstädtebund angehörigen Orten Vulci und Volsinii in Mittelitalien am Tempio Grande und am Tempio Etrusco del Belvedere dokumentiert wurden, legen dies beweiskräftig nahe.
Im Gegensatz zum griechischen Tempel, der niemals einen blockhaften Unterbau von mehreren Metern Höhe aufgewiesen hat. Zwar gab es auch beim griechischen Tempel einen getreppten mehrstufigen Unterbau, die Krepis, doch diente die Krepis nicht dazu, den Zugang zu verhindern, sondern möglichst bequem zu ermöglichen.

Nicht Frontalität und alleinige Erschließung des Sakralbaus über eine Freitreppe waren die Kennzeichen des griechischen Ringhallentempels (Peripteros). Vielmehr standen Allansichtigkeit, der von den vier umgebenden Seiten her mögliche Zugang des regelmäßig umlaufenden Säulenkranzes und das organisch-harmonische Eingebundensein in den natürlichen Lebensraum im Vordergrund. Der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. erbaute Hera-Tempel II im von Griechen kolonisierten unteritalischen Paestum wie der 438 v. Chr. fertiggestellte Parthenon auf der Akropolis von Athen belegen diesen Anspruch.

10. Der Parthenon in Athen.
Bei den Säulenstellungen und beim Gebälk wird die römische Formensprache natürlich vom griechischen Vorbild extrem stark und nachhaltig beeinflusst. Was übrigens von niemandem ernsthaft bestritten wird.
Der kommende Beitrag wird sich noch einmal mit einem Thema der römischen Architektur auseinandersetzen, das zum Sakralbau nicht gegensätzlicher sein könnte, und zwar mit den Stätten blutiger, unbarmherziger Gladiatorenkämpfe und grausamer Tierhetzen: den Amphitheatern.
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