Buchbesprechung: „Europa, das Meer und die Welt“ von Jürgen Elvert

Soeben hat das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin seinen Gästen eine bis zum 6. Januar 2019 andauernde Sonderausstellung mit dem Titel „Europa und das Meer“ präsentiert. Unter den zahlreichen Exponaten, die Besucherinnen und Besucher auf 1500 Quadratmetern Ausstellungsfläche erwartet haben, befand sich unter anderem auch ein Nachbau des vergoldeten Staatsschiffs der Seerepublik Venedig, des sogenannten  Bucintoro, in verkleinertem Maßstab. An Bord des Bucintoro ließ sich früher der wichtigste Repräsentant der Stadt, der Doge, in die Lagune hinausrudern, um alljährlich am Himmelfahrtstag die symbolische Vermählung Venedigs mit dem Meer vorzunehmen. Sich das launische, bisweilen stürmische Element gewogen zu machen, dem man Wohlstand, Reichtum und Bedeutung verdankte, war vermutlich ein naheliegender Gedanke.

Die Ausstellung „Europa und das Meer“ verharrt jedoch nicht in der Thematisierung mittelmeerisch vorgetragener Handelsaktivitäten Venedigs. Dazu ist zum einen der von der Antike bis in die Gegenwart gefasste Zeitrahmen zu groß. Zum anderen ist es die Bedeutung des heutzutage mehr als 90 Prozent aller weltweiten Warenströme umfassenden Seehandels selbst, die das DHM und den Ideengeber Jürgen Elvert dazu bewogen haben, eine umfassendere Perspektive der Betrachtung einzunehmen. Jürgen Elvert, als Professor Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Institut der Universität zu Köln lehrend, ist 2013 von der Europäischen Kommission aufgrund seiner vielfältigen Forschungsaktivitäten mit dem „Jean Monnet-Lehrstuhl“ für Europäische Geschichte ausgezeichnet worden. Ihm als Autor ist das im Mai 2018 von der Deutschen Verlags-Anstalt (DVA)  veröffentlichte Werk „Europa, das Meer und die Welt“ zu verdanken.

Frühe Fahrten in die Ferne

Der Untertitel „Eine maritime Geschichte der Neuzeit“ der insgesamt 591 Seiten umfassenden Publikation verweist darauf, dass per Schiff bereits in der Antike oder im Mittelalter getätigte Fernfahrten hier keine Rolle spielen. Die von den Wikingern nachweislich während des 9. bis 11. Jahrhunderts bis nach Neufundland vorgetragenen Unternehmungen werden vom Autor zwar erwähnt (vgl. S. 20, S. 43), doch mit dem Hinweis auf fehlende Kontinuität in der Wissensüberlieferung im Königreich Portugal des 15. Jahrhunderts in einer randständigen Position belassen. Die portugiesischen Entdeckungsfahrten jener Zeit, sie sind eng mit dem Namen des als Heinrich der Seefahrer bekannten Prinzen verknüpft, werden in drei Phasen unterteilt. Die erste von 1415 bis 1443 währende Phase sah die Erkundung des zwischen dem portugiesischen Festland und den Kanaren, Azoren und Madeira befindlichen atlantischen Seegebiets vor, wohingegen sich mit dem nächsten Schritt – der Fahrt bis zur vor dem heutigen Mauretanien in Westafrika gelegenen Insel Arguin – eine ökonomische Perspektive eröffnete. Es konnte nämlich Gold heim nach Lissabon gebracht werden, so dass nunmehr private Finanziers und Geldgeber die Krone bei Ausrüstung, Bewaffnung und Besatzung neuer Expeditionsschiffe unterstützt haben. Fast könnte man es als lusitanische Antwort auf die Eroberung von Byzanz durch die Osmanen 1453 bezeichnen, was König Alfons V. ein Jahr später per Erlass erreichen wollte. Die Suche nach dem Seeweg nach Indien sollte über die inzwischen vergrößerten Handelsschwierigkeiten auf der transasiatischen Landroute der Seidenstraße hinweghelfen. Die dritte Phase ist darüber hinaus durch die Vergabe von Konzessionen im Afrikahandel gekennzeichnet. Voraussetzung für ihre ordnungsgemäße Erlangung war die Bereitschaft jährlich um die 600 Kilometer Küstenlinie zu erkunden.

Unter Verwendung hochseefähiger Schiffstypen wie der Nau und der Karavelle, über ihre Eigentümlichkeiten und Eigenschaften informiert der Autor ausführlich (vgl. S. 26-34), sollte Vasco da Gama schließlich 1498 den Seeweg nach Indien in östlicher Richtung finden, zehn Jahre nachdem Bartolomeu Diaz die Umsegelung des Kaps der Guten Hoffnung an der Südspitze Afrikas gelungen war.

In der Neuen Welt

Bekanntermaßen sollten nicht nur die Portugiesen in Südostasien ihren Estado da Índia, das portugiesisch-indische Kolonialreich, errichten, sondern auch die Spanier ihre kolonialen Ambitionen in Amerika zu verwirklichen suchen. Eine der Stärken von „Europa, das Meer und die Welt“, man könnte noch zahlreiche andere hinzufügen, liegt darin begründet, dass es Jürgen Elvert gelingt, die wechselseitigen Auswirkungen der Begegnungen der Einheimischen mit den Fremden aufzuzeigen. Unter Nutzung des von dem Schweizer Historiker Urs Bitterli entwickelten Modells von Kulturkontakten deutet Elvert das erste Aufeinandertreffen von Indios und Europäern auf San Salvador im Zuge der Entdeckung von Kolumbus als Kulturberührung. Daraus habe sich dann anschließend infolge des Austauschs von Waren ein erster Kulturkontakt ergeben. Der Tod der 39 Besatzungsmitglieder, die in La Navidad vom Genueser Seefahrer zurückgelassen wurden, wäre demnach als das Resultat eines ersten  Kulturzusammenstoßes zu werten (vgl. S. 164), in dem sich ausnahmsweise die einheimische Kultur gegenüber der europäischen als nicht unterlegen gezeigt hat.

Im Laufe der Zeit haben viele Spanier die risikoreiche Schiffsreise über den Atlantik gewagt, ob sie nun als Siedler, Kolonisten, Konquistadoren und/oder Glücksritter auf der Suche nach dem sagenhaften El Dorado ihr in der iberischen Heimat bescheidenes Los zu verbessern trachteten. Der Kolonialismus und der ihm innewohnende Konflikt zwischen politisch-ökonomischen Interessen auf der einen Seite und christlich-ethischen Werten auf der anderen sollte 1550 und 1551 schließlich in den Disput von Valladolid einmünden (s. S. 201ff.), da sich verschiedene gesetzgeberische Maßnahmen wie die Gesetze von Burgos (Leyes de Burgos) 1512 (vgl. S. 194) und die Neuen Gesetze (leyes Nuevas) 1534 (vgl. S. 198) als nicht zielführend genug erwiesen haben, um die gröbsten Missstände zu beseitigen. In Valladolid disputierten also der Kleriker Bartolomé de Las Casas und der Philosoph und Theologe Juan Ginés de Sepúlveda über Fragen wie die, ob die gewaltsame Unterwerfung der Indios und deren Versklavung als bellum iustum der europäischen Zivilisation gegen die Barbarei gerechtfertigt sei oder nicht. Die von de Las Casas vertretenen Positionen sollten späterhin großen Einfluss auf Jean-Jacques Rousseau ausüben.

Kulturgeschichte

Nach den Portugiesen und Spaniern sollten vor allem Engländer und Niederländer mit ihren Handelsgesellschaften der East India Company (EIC) und der Vereenigde Geoctroyeerde Oostindische Compagnie (VOC) zu einer weiteren Ökonomisierung des Fernhandels ihren Beitrag leisten. Einige Fakten und Zusammenhänge mögen dabei bekannt sein, viele sind es bestimmt nicht.

Dabei kommen die kulturgeschichtlichen Gesichtspunkte bei Elvert nicht zu kurz, denn der Autor versteht es, hier nachdrückliche Akzente zu setzen. Zur Genese der Botanischen Gärten heißt es etwa: „Nicht von ungefähr wurden die ersten bedeutenden botanischen Gärten Europas zumeist in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gegründet. Sie dienten nicht zuletzt dazu, einem interessierten europäischen Publikum die außereuropäische Flora näherzubringen. Überdies eigneten sie sich vorzüglich, den pharmakologischen Nutzen bis dahin unbekannter Pflanzen wissenschaftlich zu erforschen. Diese Aspekte waren bei den Gründungen der botanischen Gärten im frühneuzeitlichen Europa ausschlaggebend. Die ersten botanischen Gärten in Europa entstanden in Padua und Pisa (1545), Leipzig (1580), Jena (1586), Heidelberg (1597) und Gießen (1609).“ (s. S. 206)

So geht der Gang durch die Jahrhunderte voran, stets begleitet von hervorragendem Bildmaterial, bis im fünften Abschnitt unter der Überschrift „Handel, Wandel, Macht und Erkenntnis“ das 19. Jahrhundert mit seinen nach Übersee strebenden europäischen Auswanderern, das 20. Jahrhundert und die Gegenwart mit ihren ökologischen Problemen maritimer Art in den Blick geraten.

Wer europäische und globale Geschichte einmal aus einer anderen Richtung betrachten möchte, hat in „Europa, das Meer und die Welt“ ein wahres opus magnum als Begleiter.

amerigo vespucci 1

Segelschulschiff „Amerigo Vespucci“; Stapellauf 1931

Bildnachweis©derblogger

 

 

 

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s