Queen Victoria und das Viktorianische Zeitalter

Frühe Jahre

Als sie vor zweihundert Jahren im Sternzeichen der Zwillinge am 24. Mai 1819 das Licht der Welt erblickte, hat wohl niemand geahnt, niemand vorausgesehen, dass einmal eine ganze Ära nach ihr benannt werden würde. Zwar fand die Geburt Erwähnung in der Presse, in der Öffentlichkeit wurde jedoch kaum Notiz davon genommen. Allzu viel sprach angesichts von drei in der Thronfolge vor ihr platzierten Onkeln und dem mit derselben Aussicht ausgestatteten eigenen Vater nicht für Princess Alexandrina Victoria of Kent. Zudem galten für den kontinentalen Teil des in Personalunion mit dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland verbundenen Königreichs Hannover die rechtlichen Bestimmungen des im Frühmittelalter wurzelnden Salischen Gesetzes. Dem Inhalt nach waren Frauen von der Thronfolge ausgeschlossen.

Demgemäß können auf das Kind gerichtete royale Ambitionen im Londoner Kensington Palace, dem Geburtsort, an jenem Maitag 1819 nicht sehr weit gespannt gewesen sein. Es handelt sich dabei um denselben Palast, der noch heute von Angehörigen der königlichen Familie bewohnt wird. Bis zu ihrem frühen Tod 1997 nannte dortselbst auch DianaPrincess of Wales, zwei Apartments ihr eigen, gegenwärtig finden Prince WilliamDuke of Cambridge, und CatherineDuchess of Cambridge, und ihr Nachwuchs hier ihr in eine umgebende Garten- und Parklandschaft eingebettetes Domizil.

Familiär entstammte – für uns heute sehr überraschend und bemerkenswert – die junge Victoria weder der englischen Hocharistokratie noch der weitgehend mit dem niederen Landadel übereinstimmenden Gentry. Ihr schon sehr früh im Januar 1820 verstorbener Vater EdwardDuke of Kent and Strathearn, dem Titel nach also einem Herzog entsprechend, war der viertgeborene Sohn des im Alter von Attacken zunehmenden Wahnsinns heimgesuchten König Georgs III. Väterlicherseits ist damit die Herkunft im deutschstämmigen Königshaus Hannover, einer jüngeren Linie des altehrwürdigen Welfengeschlechts, das in Herzog Heinrich dem Löwen einen frühen Vorfahren im 12. Jahrhundert als ernstzunehmenden Gegenspieler von Kaiser Friedrich I. Barbarossa hatte, maßgeblich. Für die Mutter Victoria Luise, eine schon vormals verwitwete Fürstin von Leiningen, ist die familiäre Verwurzelung im Haus Sachsen-Coburg-Saalfeld, einer Nebenlinie der ernestinischen Wettiner, für die Herkunft von entscheidender Bedeutung. Die Bezüge zum deutschen Sprachraum innerhalb des kontinentalen Europa treten somit klar zu Tage.

Abseits genealogischer Erwägungen ist es für die vaterlos aufgewachsene Victoria bedeutsam gewesen, im Alter von fünf Jahren in Kontakt mit der für Erziehungsaufgaben zuständigen Gouvernante Baronin Louise Lehzen gekommen zu sein. Sie wie auch ein anglikanischer Geistlicher und verschiedene Lehrerinnen waren mit der Aufgabe betraut in Form von Privatunterricht, der verteilt auf fünf Unterrichtsstunden an sechs Wochentagen stattfand, notwendige Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln. Neben Sprach- und Fremdsprachenunterricht in Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch und Latein sollte auch der musische Bereich mit Klavier- und Malunterricht nicht zu kurz gekommen sein. Tanz- und Reitstunden standen ebenso auf dem Programm wie Geographie, Geschichte und Religion. Alles hat unter den wachsamen Blicken vom zum Nachlassverwalter ernannten Sir John Conroy stattgefunden. Diesem manipulativen Einflüsterer gelang die Einrichtung einer als Kensington System bekannt gewordenen Kontrolle aller Lebensbereiche. Die Verhängung des Gebots an die junge Victoria niemals alleine und ohne Begleitung die Treppe hinunterzugehen gehörte dazu wie die Maßgabe im Schlafzimmer der Mutter zu übernachten. Weitere Elemente wie Isolation und Besuchskontrolle vermitteln nicht den Eindruck, hier habe eine überaus glamouröse und unbeschwerte Jugend stattgefunden.

Auf dem Thron

Insofern mag am 20. Juni 1837 als der nunmehr Achtzehnjährigen unter anderem vom Erzbischof von Canterbury die Nachricht überbracht wurde, dass König William IV. verstorben sei und ihr, Victoria, die monarchische Würde jetzt legitimerweise zukomme, neben trauernder Anteilnahme, Überraschung, dem verständlichen Gefühl der Überforderung auch der Gedanke an etwas Befreiendes eine Rolle gespielt haben. Ihrem Tagebuch vertraute sie jedenfalls die Zeilen, „Ich bin sehr jung und vielleicht in vielem, wenn auch nicht in allem, unerfahren. Aber ich bin mir sicher, dass nur wenige einen stärkeren Wunsch haben, das Richtige zu tun.“, an.

Die Bevölkerung durfte sich nun mit dem Gedanken anfreunden, erstmals seit der 1714 verstorbenen Queen Anne aus dem Haus Stuart über eine Königin als Regentin zu verfügen. Damit durfte sich ebenfalls die anglikanische Kirche über ein neues Oberhaupt freuen. Die Kompetenzen Queen Victorias erstreckten sich in diesem Bereich vor allem darauf, in Absprache mit der Regierung Bischöfe und Erzbischöfe auswählen zu können.

Kirchenrechtliche und dynastische Fragen korrelierten seit den Tagen Heinrich VIII Tudor, der der Initiator der Abspaltung von der römisch-katholischen Kirche war. Wesentliche Elemente seiner Neuschöpfung hat der Anglist Dietrich Schwanitz in der 1995 erstmals aufgelegten, mittlerweile vergriffenen und derzeit allenfalls antiquarisch erhältlichen Englische(n) Kulturgeschichte bestimmt: „Die „Thirty-nine Articles“ von 1563 kombinierten zwar die lutherische Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben mit der zwinglianischen Lehre vom Abendmahl als symbolischer Handlung und der calvinistischen Prädestinations-Doktrin und stellten darin ein Extrakt des Protestantismus dar; aber das Zeremoniell der anglikanischen Kirche war relativ katholisch geblieben.“ (vgl. S. 39f.)

Die Furcht vor einer Rekatholisierung blieb immer vorhanden. Sie ging so gar nicht christlich einher mit der Fragestellung, was denn mit dem im 16. Jahrhundert enteigneten und säkularisierten Kirchenbesitz zu geschehen hätte, falls man den status quo ante wiederhergestellt hätte. Jedenfalls beschloss das englische Parlament 1701 mit dem Act of Settlement eine neue Grundlage mit Gesetzeskraft zur Regelung der protestantischen Thronfolge. Die noch zur Lebenszeit von Queen Victoria daraus abgeleiteten, gültigen Bestimmungen besagten, dass kein Katholik den Thron Englands einnehmen darf. Erst in jüngster Vergangenheit hat mit dem am 26. März 2015 in Kraft getretenen sogenannten „Perth Agreement“ eine leichte Abschwächung der legislativen Vorgaben stattgefunden, und zwar insbesondere um das allgemeine Erstgeburtsrecht gegenüber der Frage Junge oder Mädchen zeitgemäß zu stärken. Zwar haben Herrscher oder Herrscherin nach wie vor Angehörige der anglikanischen Kirche zu sein, allein die Heirat mit jemandem katholischen Glaubens führt nicht mehr automatisch zum Ausschluss von der Thronfolge.

Victoria und Albert

Während die politische Zusammenarbeit der jungen Herrscherin mit ihrem Counterpart als Premierminister Lord Melbourne sehr konstruktiv voran schritt, sollte sie sich späterhin mit dessen Nachfolger Sir Robert Peel anfänglich durchaus schwieriger gestalten. Es galt stets die Eigentümlichkeiten der konstitutionellen Monarchie, einer Staatsform mithin, die verfassungsmäßigen Einschränkungen in der Ausübung von Herrschaft unterworfen war, gebührend zu berücksichtigen. Wer das nicht tat und der Meinung war, die Rechte und Belange des Parlaments nachhaltig missachten zu können, dem konnte es wie König Charles I. aus dem Hause Stuart ergehen. Ihm blieb 1649 der Gang zum Richtplatz nicht erspart. In einem glücklicheren Schicksalsverlauf, wie er der besonders an Außenpolitik interessierten Victoria in der Zusammenarbeit mit Premierminister Benjamin Disraeli beschieden war, konnten gleichwohl zusätzliche Titel erworben werden. Das wird am indischen Beispiel deutlich. Nachdem der indische Aufstand von 1857 beendet werden konnte, wurde das Land als Britisch-Indien 1858 in den Status einer formellen Kronkolonie versetzt. Unermüdliche parlamentarische Initiativen Disraelis führten schließlich zur Proklamation Victorias zur Kaiserin  von Indien im April 1876.

Doch zurück ins Jahr 1840. Am 10. Februar des Jahres fand die Heirat mit dem gleichaltrigen Albert von Sachsen-Coburg-Gotha statt. Königin und Prinzgemahl waren weniger traditionellen aristokratischen Vergnügungen wie etwa Pferderennen oder Glücksspiel zugetan, einer unernsten Lebensform, der es an Identifikationspotential mangelte, vielmehr waren beide von einem Arbeitsethos ergriffen, in dem Fleiß viel galt. Bei Victoria äußerte sich dieser Fleiß beispielsweise in der tagtäglichen Bewältigung der zahlreichen Korrespondenz, bei Albert in seiner Hinwendung zu Wissenschaft und Technik. Sein Engagement für die erste Weltausstellung 1851 in London, innerhalb derer das britische Empire seine globale Vorrangstellung eindrucksvoll zum Ausdruck bringen konnte, sollte ihm viel Beifall einbringen.

Dem demographischen Wandel in Großbritannien, laut Zensus stieg die Bevölkerungszahl von 10,5 Millionen Einwohnern 1801 auf 27,3 Millionen Einwohner 1851, begegnete Albert auf seine Weise, indem er die Bedeutung der Macht der Bilder für die immer zahlreicher werdende Mittelschicht für die Zwecke der Monarchie zu nutzen verstand. Die Historikerin Karina Urbach hat in ihrer 2018 in aktualisierter Auflage erschienenen, unbedingt lesenswerten Biographie „Queen Victoria“ darauf hingewiesen, dass eine bewusste Hinwendung zu bürgerlichen Tugenden Bestandteil der Medienstrategie war: „Ein anderer Beleg des royal-bürgerlichen Familienglücks sind bis heute Alberts Fotos von den Weihnachtszimmern. Der Prinzgemahl war ein begeisterter Fotograf und erkannte früh, welches große Werbepotenzial Fotos boten. Er ließ seine Familienmitglieder unablässig ablichten, und er sorgte dafür, dass jedes königliche Weihnachtsfest im Detail – vom Gabentisch bis zum Baum – abfotografiert wurde. In gewisser Weise „erfand“ er Weihnachten als eine neue, bürgerliche Tradition für die Royal Family.“ (Vgl. S.110)

Wenn heutzutage die königliche Familie den alljährlich am 1. Weihnachtstag terminierten Christmas service at Sandringham absolviert, dann ist ein weltweites Medienecho in Form von bewegten Bildern garantiert. Eine weite Anfahrt haben die Windsors, bis ins Kriegsjahr 1917 hieß man Sachsen-Coburg-Gotha, dafür nicht in Kauf zu nehmen, schließlich befindet sich das nahe bei gelegene Sandringham House, Grafschaft Norfolk, in königlichem Besitz. Hier werden traditionsgemäß die Weihnachtstage verbracht. Victoria, deren Ururenkelin Queen Elizabeth II. ist, hat es dem zweitältesten ihrer neun Kinder, dem seinerzeitigen Thronfolger Edward, Prince of Wales, 1862 als Wohnsitz gekauft. Zu diesem Zeitpunkt war ihr Ehemann Albert schon tot. Er verstarb am 14. Dezember 1861 im Alter von nur 42 Jahren. Victoria sollte Albert 40 Jahre überleben, bis auch sie am 22. Januar 1901 verstarb.

Viktorianisches Zeitalter

Seit dem Beginn der Industriellen Revolution in den 1750er Jahren, deren Anfänge mit der Errichtung der Bergbau- beziehungsweise Textil- und Bekleidungsindustrien in den West und East Midlands verbunden waren, war das Leben der darin involvierten Menschen starken Veränderungen unterworfen. Zeitlich nahezu parallel konnten die aus britischer Sicht siegreich bestrittenen Auseinandersetzungen des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) mit den neu hinzugewonnenen Kolonialgebieten dabei helfen, dass die Rohstoffmärkte für den Import und die Absatzmärkte für den Export auf eine noch breitere Grundlage gestellt wurden.

Das britische Empire nahm somit stetig an Größe zu, und ein Ende des Zugewinns an Macht und Ansehen war im zweiten und letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, des Zeitraums, den wir mit dem Begriff des Viktorianischen Zeitalters zu belegen pflegen, nicht absehbar. Auf politischem Gebiet verbreiterten mehrere Wahlrechtsreformen die Anzahl der Wahlberechtigten, wobei diese Privileg stets an den Besitz von Eigentum geknüpft blieb. Gleichzeitig schrumpfte die Dauer, die benötigt wurde, um von einer durch starkes Bevölkerungswachstum geprägten britischen Stadt zur nächsten zu gelangen beträchtlich aufgrund der Anlage von Eisenbahnverbindungen.

Wovon Queen Victoria auf ihren zahlreichen Reisen durchs Land indessen ebenso Kenntnis erlangte, war die drängender zu Tage tretende soziale Frage. Die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Elendsquartieren von London und Manchester müssen – nicht nur an heutigen Maßstäben gemessen – angesichts von unzureichend gelösten Fragen wie denjenigen nach einer angemessenen Versorgung mit sauberem Trinkwasser, sachgerechten Entsorgung von Abwasser, einer adäquaten medizinischen Behandlung von Krankheiten und schubweise grassierenden Epidemien katastrophal gewesen sein.

Autoren wie Charles Dickens ermöglichen uns heute, die Lebensbedingungen im Großbritannien des 19. Jahrhunderts nachzuvollziehen. Seinem Leben und Werk ist der nächste, aktuell in Vorbereitung befindliche Beitrag diese Blogs gewidmet. Weitere Beiträge zum Viktorianischen Zeitalter sind in Planung.   

 

 

 

 

 

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