Der Anschluss Österreichs

Als vor achtzig Jahren, am 15. März 1938, Reichskanzler Adolf Hitler vom Balkon der Hofburg zu der auf dem Wiener Heldenplatz versammelten Menge von geschätzt 250.000 Menschen sprach, da war die völkerrechtswidrige Annexion Österreichs praktisch besiegelt. Begeisterung brandete auf, als Ohren und Hirne der Anwesenden von dem Satz, „Als Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reichs melde ich vor der deutschen Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“, mehrheitlich beglückt wurden. Denjenigen allerdings, denen Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft nicht zugestanden wurde, die sahen schrecklichen Zeiten entgegen.

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alpine Bergwelt

Politische Bedeutung

Was bei Gründung des deutschen Kaiserreiches am 18. Januar 1871, des Zweiten Reiches, nicht möglich erschien und in federführenden Kreisen des Norddeutschen Bundes nicht gewollt war, nämlich die Integration eines substantiellen Anteils der Habsburgermonarchie, um eine großdeutsche Lösung zu schaffen, das sollte 1938 gelingen. Der Anschluss Österreichs war gleichbedeutend mit der Schaffung eines Großdeutschen Reiches. Hilfreich war die Haltung der Italiener, die noch 1934 nach der Ermordung des österreichischen Kanzlers Engelbert Dollfuß Truppen an den Brenner verlegt hatten, sich diesmal aber still verhielten. Benito Mussolini ließ seinem Diktatorenfreund bei der Kreation großgermanischer Traumwelten freie Hand, und der Führer war ihm dankbar dafür.

Anhand des Beispiels des Anschlusses von Österreich möchte ich auf eine historische Parallelsituation aufmerksam machen, die im Regelfall bei der Ausdeutung und Bewertung der Ereignisse fast nie zur Sprache kommt. Daher ein Blick zurück ans Ende des 1. Weltkriegs: Da sehen wir vier große, zum Teil seit Jahrhunderten bestehende Reiche am Rande ihrer Existenz, dem Untergang geweiht. Die Rede ist vom russischen Zarenreich, das in den Wirren der Oktoberrevolution 1917 sein Ende finden sollte. Das osmanische Großreich wird schließlich nur als stark verkleinerte Türkei ein Fortbestehen haben. Und dann sind da eben noch das deutsche Kaiserreich der Hohenzollern und die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie der Habsburger, denen ebenfalls kein Fortdauern über das Weltkriegsende 1918 hinaus gewährt wurde.

Beide letztgenannte Reiche begegnen uns schon zu Beginn des 1. Weltkriegs als Verbündete und völlig unabhängig von der Frage, ob man sie als Hauptschuldige oder lediglich als „Schlafwandler“ wie alle anderen Akteure auch betrachtet, ist ihre wirtschaftliche Substanz, insbesondere die Rohstoffbasis, als nicht ausreichend genug angesehen worden, um gegen die Allianz aus den mächtigen Gegnern Frankreich, Großbritannien, Russland und ab Frühjahr 1917 den USA bestehen zu können.

Im Frühjahr 1938 dann sind seit der Machtergreifung gut fünf Jahre vergangen. Außenpolitik wurde vor allem im Zeichen von Revanchismus und Revisionismus betrieben, um dem sogenannten „Schanddiktat von Versailles“ ein Ende zu setzen. Einige Erfolge wie die Volksabstimmung im Saargebiet zugunsten der Zugehörigkeit zum Deutschen Reich, die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht und die Besetzung des Rheinlandes konnten verbucht werden. Je mehr sich die Nationalsozialisten über internationales Recht und diplomatische Gepflogenheiten weiter hinwegsetzen sollten, desto klarer hätte selbst ihnen sein können, dass die alte Allianz des 1. Weltkriegs gegen die Mittelmächte im Falle eines allgemeinen Kriegsgeschehens durchaus in der Lage war, im Sinne einer Reaktivierung wieder ein Bündnis zu schließen. So sollte es denn auch kommen.

Menschliche Auswirkungen

Nach dem Anschluss verschärfte sich die Situation für die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Wien bedrohlich. Sie waren tagtäglich übelsten Schikanen ausgesetzt, mussten um Hab und Gut und um Leib und Leben fürchten. Wer von ihnen es nicht geschafft hat, sich rechtzeitig außer Landes in Sicherheit zu bringen, lief zunehmend Gefahr seine wirtschaftliche Existenz und am Ende das Leben selbst zu verlieren.

Die deutschen Nationalsozialisten beobachteten die besondere Radikalität ihrer neuen großdeutschen Volksgenossen in der Behandlung dieser Frage zunächst mit Wohlwollen. Sie sahen und lernten hinzu, welch radikale Möglichkeiten sich für das „Altreich“ selbst ergaben und forcierten diese entsprechend. Die Frage nach der Natur und Art des Antisemitismus sollte dabei nicht ausgeblendet, sie sollte stets im Blick behalten werden.

Vergegenwärtigt man sich heute, dass nur ca. ein Prozent der gesamten deutschen Bevölkerung Anfang der 1930er Jahre einen jüdischen Hintergrund hatte, so kann es Angst vor Überfremdung, die Xenophobie, also nicht gewesen sein. Es muss zwingend noch andere Begründungszusammenhänge gegeben haben. Wer bereit ist, der Argumentation des zugegeben nicht unumstrittenen Politologen, dem Börnepreisträger Götz Aly zu folgen, diejenigen werden sich nicht vollständig davor verschliessen können, dass Begrifflichkeiten wie theologischer oder rassischer Antisemitismus nicht geeignet sind, das Geschehene umfassend und ausschließlich zu erklären. Aly hat in seinen Veröffentlichungen (z.B. Hitlers Volksstaat (2005), Warum die Deutschen? Warum die Juden? (2011) immer wieder auf das Vorhandensein gesellschaftlicher Sonderfaktoren hingewiesen.

Bei Aly wird die jüdische Bevölkerung auf deutschem Gebiet gegen Ende des 19. Jahrhunderts als eine – in den urbanen Zusammenhängen der sich weiter etablierenden Großstädte der Zeit – besonders gut assimilierte kulturelle Gruppierung benannt. Aufgrund der mehrtausendjährigen Teilhabe an einer uralten Schriftkultur genießt Bildung traditionell einen sehr hohen Stellenwert, was hinwiederum zu besseren und qualifizierteren Schulabschlüssen seinerzeit als bei so mancher germanischen Familie geführt hat. Der Umstand hält übrigens statistischer Nachprüfung statt. Das erfolgreiche Ergreifen von Bildungschancen führte wiederum zu besseren Ausbildungs- bzw. Studienabschlüssen als bei vielen germanischstämmigen Absolventen, so dass überproportional viele Angehörige der kulturell jüdisch geprägten Gruppierungen in der Lage waren, juristische oder medizinische Berufe zu ergreifen, im Zeitungs- und Verlagswesen Fuß zu fassen und nicht zuletzt üblicherweise wohldotierte Tätigkeiten in der Finanzwirtschaft auszuüben. Die Welt des Theaters und der Kunst im allgemeinen einmal völlig außen vorgelassen. Das moderne Leben in der Stadt wurde im Ergebnis höchstwahrscheinlich vielfach einfach besser verstanden, könnte man als Erklärung anfügen. Reichtum und Vermögen wurden erworben.

Was in wirtschaftlich prosperierenden Zeiten, in denen alle an zunehmendem Wohlstand teilhaben können, noch funktioniert, das ging in Deutschland unter den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise ab 1929 immer weniger. Neid und Sozialneid brachen sich dann vollends ab Anfang 1933 Bahn, nicht zuletzt aufgrund eines erodierenden Rechtsstaats. Die Banalität des Bösen, um mit den Worten der Philosophin Hannah Arendt zu sprechen, wurde Wirklichkeit, doch Neid war selbst den Nazis keine Begriffskategorie, die man dem Ausland gegenüber verwenden wollte, um eigene Schandtaten zu rechtfertigen. Daher die pseudowissenschaftliche Bemühung des Rassegedankens und der damit verwobenen Wahnvorstellungen von der Reinhaltung des Blutes. So erscheinen die Nürnberger Rassegesetze, bei denen der spätere enge Adenauer-Mitarbeiter Hans Globke als Co-Autor und Kommentator verantwortlich zeichnete, in einem gänzlich anderen Licht.

Bildnachweis: sxc©Freepik.com

 

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