Die Anfänge des British Empire werden in den beiden ersten Teilen der an diesem Ort im Januar 2019 veröffentlichten Beiträge unter derselben Überschrift näher vorgestellt. Nunmehr im Mai 2019 steht die Frage nach dem Ende des Imperiums im Mittelpunkt.
Ein Junitag in Hongkong
Es war am 30. Juni 1997 als die britische Kronkolonie Hongkong den Besitzer wechselte, und zwar ab dann als unveräußerlicher Teil der Volksrepublik China. Die Übergabe der Staatshoheit war formal mit der Einrichtung einer Sonderverwaltungszone mit weitreichender Autonomie, eigener Währung und eigenem Steuersystem verbunden. Schon in den Wochen zuvor sind die ihren Pendants in Bristol, Dover oder Liverpool ähnelnden roten Briefkästen der Krone abgebaut und die Photographien der Queen von den Wänden der behördlichen Amtszimmer entfernt worden. An diesem 30. Juni 1997 hat auch der letzte britische Gouverneur von Hongkong seinen Regierungssitz verlassen. In der Begleitung des Prince of Wales begab er sich ganz standesgemäß an Bord der royalen Yacht Britannia, und sie fuhren auf und davon. Nach allgemeinem Dafürhalten bedeutet dieser Tag das Ende der Existenz des British Empire nach vierhundert Jahren.
Zwar übt das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland auf der Grundlage des British Overseas Territories Act von 2002 gegenwärtig immer noch die Souveränität über vierzehn Gebiete aus, die als Britische Überseegebiete bezeichnet werden. In Europa zählen dazu Gibraltar und die Militärbasen Akrotiri und Dhekelia auf Zypern. Souveränität bedeutet in diesem Kontext aber nicht, dass die Überseegebiete Teil des Vereinigten Königreichs wären. Sie sind es nämlich nicht.
Überzeugende rechtliche Trennlinien somit. Durch die eine wird das Vorhandensein von Überseegebieten bekräftigt, durch die andere das Ende des Empire erklärt. Während der Export des Rechtssystems neben Sprache, Kultur und christlicher Zivilisation gemeinhin zu den segensreichen Gütern gezählt werden, mit denen quasi ein Viertel der Landmasse der Erde beglückt wurde, hat der ehemalige britische Außenminister Jack Straw schon vor Jahren auf die Schattenseiten kolonialzeitlichen Erbes hingewiesen (https://www.faz.net/aktuell/politik/aussenminister-straw-britisches-empire-ist-schuld-an-heutigen-konflikten-181213.html). Unter anderem durch Bezugnahme auf die eigene Rolle bei der Enstehung des Nahost-Konflikts aufgrund der Ziehung der irakischen Staatsgrenzen, aber auch bei der angespannten Situation, die zwischen Indien und Pakistan, immerhin zwei Atommächten, besteht, wird ein gänzlich anderes Bild gezeichnet.
Blick nach Indien
Das heutige Indien war als Britisch-Indien ebenso Kolonie wie es Australien, Neuseeland oder Kanada gewesen sind. Und doch gab es gewaltige Unterschiede, die vor dem Hintergrund, dass diese vier Länder dem Commonwealth in seiner gegenwärtigen Form als lose Verbindung souveräner Staaten angehören, im allgemeinen Bewusstsein weniger präsent sind. Denn diejenigen Engländer, Waliser und Schotten, die seit dem frühen 17. Jahrhundert den indischen Subkontinent aufsuchten, um zu bleiben, sie kamen nicht als Siedler wie hauptsächlich in Kanada und Neuseeland oder als Strafgefangene wie im Falle Australiens. Sie dagegen kamen als Angehörige der Britischen Ostindien-Kompanie (East India Company, EIC), um Geschäfte mit in Europa begehrten Waren zu machen. Die mit einem Freibrief der Krone, einer Charter, ausgestatteten Händler und Kaufleute bewegten sich in ihren ersten ab 1609 angelegten Stützpunkten an der Küste in einer Umgebung, in der nicht sie das Sagen hatten, sondern die mächtigen Mogulherrscher. Kooperation war das Gebot der Stunde, nicht Konfrontation mit den Einheimischen.
Anfangs war das Interesse der Europäer auf feine Stoffe wie Seide und edle Gewürze gerichtet, später kamen Baumwolle, Tee, Jute und Getreide hinzu. Die im Lauf der Zeit im Land schwächer werdende Position der Mogulherrscher nutzten die Angehörigen der East India Company zu eigener territorialer Ausdehnung, nachdem ihre westlichen Konkurrenten aus Portugal, den Niederlanden und schließlich Frankreich aus dem Feld geschlagen waren ohne Störfeuer aus jener Richtung. Eine entscheidende Veränderung grundsätzlicher Art wurde nach dem Aufstand von 1857 vorgenommen, als unter britischem Kommando dienende indische Soldaten, die Sepoys, es gewagt hatten, sich gegen die zunehmende Fremdbestimmung aufzulehnen. Kurzerhand wurde durch Parlamentsbeschluss in London, den sogenannten Government of India Act von 1858, die Einrichtung einer Kronkolonie unter Königin Victoria vorgenommen. Ein Secretary of State for India beaufsichtigte von der Themse aus die neu auszurichtende Verwaltung des „Kronjuwels des Empire“. Die Reorganisation des Steuersystems einschließlich der in Britisch-Indien sehr wichtigen Grundsteuer sollte sicherstellen, dass die vor Ort zu unterhaltende Kolonialarmee einschließlich des für notwendig erachteten behördlichen Apparats aus dem Land selbst heraus finanziert werden konnte. Der Indian Civil Service (ICS) ist dabei am ehesten als eine Art von exklusiver Club zu verstehen, zu dem anfänglich nur Briten Zutritt hatten bzw. ihm ihre Arbeitskraft widmen durften. Gut ausgebildete Einheimische konnten späterhin, als die Rufe nach Teilhabe an den eigenen Belangen immer lauter wurden, zwar ebenso Mitglieder der Kolonialbürokratie werden, jedoch nur wenn bis zu einem absurd niedrigen Höchstalter von 19 Jahren entsprechende Aufnahmeprüfungen hauptsächlich in Mathematik und klassischen Sprachen in Europa erfolgreich absolviert worden waren. Dass 1869 nur drei Inder – diese Zahlenangabe findet man bei Peter Wende (s. Peter Wende, Das Britische Empire. Geschichte eines Weltreichs, München 2016, S. 257) – Angehörige des ICS waren, spricht somit für dessen Exklusivität und die Existenz der Rassenschranke.
Die geostrategische und zentrale Bedeutung des „Kronjuwels“ für das gesamte British Empire wird dadurch deutlicher, wenn man hinreichend berücksichtigt, dass nach der Eröffnung des Mittelmeer und Rotes Meer bzw. Indischen Ozean verbindenden Suezkanals 1869 dreizehn Jahre später die militärische und politische Kontrolle Ägyptens von London aus betrieben wurde. Das Land der Pharaonen war ab 1914 schließlich Protektorat, der alte Traum von Cecil Rhodes von einem von Kapstadt nach Kairo reichenden britischen Ostafrika kam seiner Verwirklichung näher, und der kürzeste Seeweg nach Indien war unter Kontrolle. Das Kap der Guten Hoffnung durften andere umfahren.
Auf dem Weg in die Unabhängigkeit
Von dem Zeitpunkt an als der Indian National Congress 1885 in Bombay zunächst als Gesellschaft mit dem Anliegen gegründet wurde, politische und soziale Fragen mit der britischen Kolonialverwaltung zu diskutieren bis zur tatsächlichen Erlangung der Unabhängigkeit sollten noch mehr als sechzig Jahre vergehen. Die zwanzig Jahre später 1906 erfolgende Abspaltung der All-India Muslim League von der Kongresspartei mag vordergründig lediglich als Versuch der bedeutenden einst mit den Moguln ins Land eingewanderten Minorität der Angehörigen islamischen Glaubens wirken, den eigenen politischen Absichten gegenüber der hinduistischen Mehrheitsbevölkerung wirksamen Ausdruck zu verleihen. An dem Argument ist sicherlich einiges richtig. Schenkt man zusätzlich Meldungen wie sie beispielsweise kurz vor der Jahrhundertwende am 16. Juli 1897 vom Gouverneur der Nordwestlichen Provinzen an den Vizekönig, den 9. Earl of Elgin, gemacht wurden, wonach es merkwürdige Vorfälle einer Verbrüderung zwischen Hindu und Mohammedanern gegeben habe, hinreichende Beachtung, kommt ein Weiteres hinzu. Das altrömische Herrschaftsprinzip des Teilens und Herrschens („divide et impera!“) hat ebenfalls in Britisch-Indien Anwendung gefunden, indem alles getan wurde, nicht einer homogenen unterworfenen Bevölkerung gegenüberzustehen, und stattdessen Untergruppen und widerstreitende Interessen seitens der Briten gefördert und geschaffen wurden.
Untrennbar mit den weiteren Vorgängen ist der mit dem ehrenden Beinamen Mahatma versehene Mohandas Gandhi, dem Beruf nach Rechtsanwalt, verknüpft. Ohne Zögern kann Gandhi als geistiger Anführer der Unabhängigkeitsbewegung bezeichnet werden, die er mit zivilem Ungehorsam gegenüber der Kolonialmacht, Hungerstreiks und gewaltfreiem Widerstand schließlich zum Ziel führte. Spektakuläre Aktionen wie der Salzmarsch im März 1930, um das britische Salzmonopol aufzubrechen und die Not der einheimischen Bevölkerung zu lindern, bildeten dabei zunächst noch heute bekannte Wegmarken. Sie verhinderten gleichwohl nicht, dass bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs der Kriegszustand zwischen Britisch-Indien und dem Deutschen Reich durch Lord Linlithgow in seiner Funktion als Vizekönig erklärt wurde, ohne einen einzigen indischen Politiker zu konsultieren. Gandhi, Jawaharlal Nehru, Mohammed Ali Jinnah und anderen einheimischen Politikern wurde damit die eigene Machtlosigkeit vor Augen geführt. Einen erheblichen Verlust von Ansehen und Prestige brachte während des Kriegsgeschehens der anfänglich unaufhaltsam scheinende japanische Vormarsch, der im Fall von Singapur 1942 gipfelte, für die Kolonialmacht mit sich. 1947 als eine Wirtschaftskrise Großbritannien selbst zusehends heimsuchte, musste schließlich alles ganz schnell gehen. Auf der Grundlage der Zwei-Nationen-Theorie wurde der Mountbattenplan umgesetzt, wonach Gebiete mit hinduistischer Bevölkerungsmehrheit an Indien, Gebiete mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit an ein östliches und westliches Pakistan fallen sollten. Auf der Landkarte wurden Teilungslinien durch Bengalen und den Punjab gezogen. Viele Millionen Menschen waren auf einmal Betroffene eines gigantischen Bevölkerungsaustauschs, bei dem angestammte Wohngebiete zu verlassen waren. Viele von ihnen wurde Opfer absehbarer Konflikte, in deren Verlauf mehr als eine Million Menschen ihr Leben verloren. Mehr als siebzig Jahre sind seitdem vergangen, die Spannungen wirken immer noch nach.
Empire revisited
Dass Imperien irgendwann zerfallen oder sich auflösen ist beinahe ein Allgemeinplatz. Warum ist dies nicht mit dem British Empire 1783 nach dem Verlust der nordamerikanischen Siedlerkolonien, aus denen sich inzwischen die USA gegründet hatten, geschehen? Warum passierte es erst im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts, und zwar in einem Prozess, der nicht unmittelbar auf das Erreichen der größten geographischen Ausdehnung begann, aber doch kurz darauf?
Mehrere Faktoren kommen zusammen. Während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges konnte eine maritime französisch-spanische Koalition die Royal Navy noch wirkungsvoll herausfordern und eine Zersplitterung der Kräfte bewirken. Dies war zwanzig Jahre danach nicht mehr möglich, spätestens nach Nelsons Sieg bei Trafalgar beherrschte die Royal Navy die Weltmeere, und zwar vollkommen unangefochten für die kommenden einhundert Jahre, der wichtige Quantensprung von der Segel- zur Dampfschifffahrt wurde mühelos und überaus innovativ bewältigt. Ebenfalls war nach Napoleons Niederlage bei Waterloo aus Kontinentaleuropa für die nächsten einhundert Jahre nichts zu befürchten, da das System der Pentarchie die vorhandenen Großmächte in einem gleichgewichtigen Zustand hielt. Daran ändern singuläre Ereignisse wie der Krimkrieg in der Mitte des 19. Jahrhunderts vom Grundsatz her nicht viel. Die heutigen asiatischen Großmächte China, Indien und Japan hatten technologisch expansiven europäischen Mächten, vorzugsweise den Briten, nichts entgegenzusetzen, wodurch die Eroberung weiter asiatischer Räume im 19. Jahrhundert seine Erklärung findet.
Im 20. Jahrhundert schließlich setzte sich im Völkerrecht immer mehr das Gedankengut vom Selbstbestimmungsrecht der Völker durch, auf lange Sicht wurde damit der Idee der Dekolonialisierung wirksame Unterstützung zuteil. Noch wichtiger für das British Empire und seinen sukzessiven Niedergang war das Erscheinen neuer Player auf der weltpolitischen Bühne. Die USA, die auch durch die monetäre Unterstützung Großbritannniens in zwei Weltkriegen eine beachtliche Gläubigerposition aufgebaut hatten, und die Sowjetunion verfolgten nach 1945 ihre eigene globale Agenda, in die die imperialen Ansprüche einer größeren und mehrerer kleiner Nordseeinseln nicht so recht passen wollten. Das wurde 1956 im Verlauf der Suez-Krise deutlich sichtbar. Der britische Premierminister Anthony Eden war aufgrund von Druck aus Washington gezwungen, von seinem Vorhaben den ägyptischen Staatspräsidenten Nasser an der Verstaatlichung des Suezkanals mit militärischen Mitteln zu hindern, abzulassen.
Vor diesem Hintergrund suchte man einige Jahre später um EU-Mitgliedschaft nach, wobei das Ansinnen von Charles de Gaulle vorerst torpediert und abschlägig beschieden worden ist. Irgendwann hat es dann endlich doch geklappt, aber es ist wohl inzwischen nicht mehr gut genug…
Der nächste Beitrag in diesem Blog widmet sich dennoch wieder den Britischen Inseln und ihren Bewohnern. Es wird eine Buchbesprechung des kürzlich erschienenen Werkes von Brendan Simms mit dem Titel „Die Briten und Europa“ sein.