Weshalb wird häufig von einem „langen 19. Jahrhundert“ gesprochen?

Wer vom langen 19. Jahrhundert spricht, bezieht sich üblicherweise auf den zwischen dem Beginn der Französischen Revolution und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs aufgespannten rund 125 Jahre währenden Zeitrahmen.

Den Begriff geprägt hat der im Oktober 2012 verstorbene britische Sozialhistoriker Eric J. Hobsbawm. Das lange 19. Jahrhundert ist dabei viel mehr als eine ebenso prägnante wie griffige Formel, sie ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Beschäftigung und Auseinandersetzung Hobsbawms mit europäischer Geschichte, die ihren verschriftlichten Ausdruck in der von 1962 bis 1987 im englischsprachigen Original erschienenen Trilogie „The Age of Revolution“„The Age of Capital“ und „The Age of Empire“ gefunden hat. Ausgangspunkt der Analyse des Autors ist dabei die Feststellung, dass sich zeitgleich eine Doppelrevolution zugetragen habe. Einerseits die zunächst von Forderungen nach breiterer politischer Teilhabe charakterisierte revolutionäre Bewegung in Frankreich und andererseits die Industrielle Revolution in Großbritannien, deren wirtschaftliche und soziale Auswirkungen die traditionellen gesellschaftlichen Muster ähnlich radikal für die Zukunft verändert haben.

Hobsbawm ist zwar zeitlebens für seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB) harsch kritisiert worden, hat deswegen auch berufliche Benachteiligungen erfahren müssen, doch sein Konzept vom langen 19. Jahrhundert hat die strengen Grenzen des auf einhundert Jahre festgelegten kalendarischen Korsetts erfolgreich zu sprengen verstanden. Jedenfalls in den Augen einer Vielzahl von Fachleuten, die wie auch eine an historischen Prozessen interessierte Öffentlichkeit ihm darin gefolgt sind. Es ist also zu fragen, welche inneren Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten – in den Worten Leopold von Rankes die „leitenden Ideen“ und „herrschenden Tendenzen“ – die allgemein akzeptierte und dennoch eigenwillige Periodisierung rechtfertigen?

Zuvor bedarf es jedoch der Klärung des geographisch-räumlichen Geltungsbereichs. Es liegt nahe, dass in dem Jahrhundert, das Europa mit einer solchen Bedeutung wie niemals zuvor und danach versah, andere Weltregionen sich zeitgleich auf davon abweichenden Entwicklungsniveaus und Kulturstufen befunden haben, was übrigens vollkommen wertfrei gemeint ist. Mit Blick auf Afrika und darüber hinaus hat Jürgen Osterhammel dazu hervorgehoben: „Für ganz Afrika – mit Ausnahme Ägyptens und Südafrikas – sind ebenso das chronologische wie das „lange“ 19. Jahrhundert irrelevant. Hier eröffnet die koloniale Invasion der 1880er Jahre eine Epoche, die sich über die Weltkriege hinweg bis zum Zenith der Dekolonisation in den 1960er Jahren erstreckte. Daraus folgt: Eine weltgeschichtliche Periodisierung kann nicht mit den scharfen Zäsurdaten einer einzelnen Nationalgeschichte und selbst der Geschichte Europas arbeiten. Anfang und Ende des 19. Jahrhunderts müssen offen bleiben.“ (s. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2011, S. 1285) Aus diesem Grund bleiben alle außereuropäischen Regionen bei der Diskussion der prägenden Faktoren des langen 19. Jahrhunderts in meinem Beitrag außer Betracht.

Nationalstaat, Nation und nationales Denken

Die Ursprünge des Nationalstaats reichen weit in die Vergangenheit bis ins Spätmittelalter zurück. Als frühe Beispiele dafür können fraglos die Königreiche Frankreich, England, Schottland und Portugal gelten. Im Zeitalter des Absolutismus ist schließlich eine qualitative Veränderung hin zu gesteigerten Aktivitäten und organisatorischen Verbesserungen auf staatlicher Ebene zu beobachten. In seinem Klassiker „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ hat schon Paul Kennedy für das Frankreich des als Sonnenkönig bekannten Ludwigs XIV. Monopolisierung und Bürokratisierung der militärischen Macht durch den Staat als zentralen Teil der Nationalstaatsbildung hervorgehoben (vgl. S. 132f.). Ob nun durch stehende Armeen, königliche Flotten, eine besser entwickelte Infrastruktur mit Miltärakademien, Kasernen, Werften und Verwaltern, die sie leiteten, Macht war jetzt nationale Macht geworden.

Doch von Nationen im modernen Sinne sprechen wir erst seit der Französischen Revolution. Bei der Nationenbildung wirken ganz allgemein Faktoren wie gemeinsame Abstammung, Sprache, Kultur und auch Religion zusammen. Elemente sozialer Gruppenbildung wie Heimatliebe, Mißtrauen gegen Fremde, Überlegenheitsgefühle der eigenen Gruppe treten zumeist – in unterschiedlicher Intensität ausgeprägt – ergänzend hinzu. „Nationen, so sieht man auf den ersten Blick, sind große mächtige Lebenszusammenhänge, die geschichtlich in langer Entwicklung entstanden und in unausgesetzter Bewegung und Veränderung begriffen sind,“ hat der Historiker Friedrich Meinecke dazu bemerkt.

Während das vorrevolutionäre Frankreich eine Ständegesellschaft mit einem Herrscher von Gottes Gnaden an der Spitze des Staates gewesen ist, wurde durch die Revolution das Volk oberster Souverän, in der Volkssouveränität verkörperte sich demzufolge die Legitimationsidee des Nationalstaats. Eine bekannte politische Flugschrift vom Januar 1789, aus den Anfängen des langen 19. Jahrhunderts, in der Abbé Sieyès seine berühmt gewordenen Forderungen erhoben hat, verdeutlicht den Gedanken. Auf dem festen Fundament der Philosophie der Aufklärung basierend, wird die gottgegebene ständische Ordnung in „Qu‘ est-ce que le tiers état?“ („Was ist der Dritte Stand?“) angezweifelt. Mit Blick auf den die finanziellen Lasten des Staates tragenden Dritten Stand konnte Sieyès fragen: „Was ist er bisher in der politischen Ordnung gewesen?“, und ein lapidares „Nichts!“ anfügen. Anders formuliert: Das durch persönliche Leistungen zu einigem Wohlstand gelangte Stadtbürgertum, sich darin von den qua Geburt ererbten Privilegien des Ersten und Zweiten Standes unterscheidend, hat ein politisches Äquivalent für seine Pflicht und Bereitschaft, Steuern zu zahlen und damit Lasten zu übernehmen, verlangt. Was bereits für die Entwicklung der attischen Demokratie im Griechenland des 6./5. Jahrhundert v. Chr. mitentscheidend war, sollte für das Frankreich des späten 18. Jahrhunderts ähnlich bedeutungsvoll werden.

Wie sah es nun östlich des Rheins aus, nachdem aus der französischen Republik – den ursprünglichen revolutionären Absichten widersprechend – das Kaiserreich Napoleons hervorgegangen war? Weil der Habsburger Franz II. am 6. August 1806 auf die Kaiserkrone verzichtet hatte, war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nach vielen Jahrhunderten Fortdauer und Bestehen an sein unwiderrufliches Ende gelangt. Der im selben Jahr gegründete Rheinbund und ein nach Jena und Auerstedt nur noch  rudimentäres Preußen bildeten augenfällig keine angemessene staatliche Ersatzexistenz. In diesem folgenreichen Ergebnis hatten sich die nur locker verbundenen und fragmentierten deutschsprachigen Einzelstaaten gegenüber dem zentralisierten französischen Nationalstaat als nicht durchsetzungsfähig genug erwiesen. Allmählich brach sich jedoch jenseits eifersüchtig gehüteter Partikularinteressen nationales Denken Bahn. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte veröffentlichte 1808 seine „Reden an die deutsche Nation“, zwei Jahre darauf erschien „Deutsches Volkstum“ vom als Turnvater bekannten Friedrich Ludwig Jahn. Mit der größten Emphase ging wohl der evangelische Theologe Ernst Moritz Arndt zu Werke. Sein Patriotismus äußerte sich offen revanchistisch und nach Rache und Befreiung, wie Arndt schrieb, wollte er unter grünen Eichen auf dem Altar des Vaterlandes dem schützenden Gotte die fröhlichen Opfer dargebracht wissen.

Heinrich August Winkler bewertet diese Art von nationalem Denken, indem er kommentiert: „Die Selbstüberhebung der Fichte, Jahn und Arndt erinnert an die Weltreichsträume der Stauferzeit. Damals freilich war das Heilige Römische Reich ein machtvolles Gebilde. Als die klassischen Texte des frühen deutschen Nationalismus geschrieben wurden, war das Reich nur noch eine Erinnerung. Aber es gab deutsche Denker, bei denen sich der universale Anspruch des alten Reiches verwandelt hatte in den Anspruch des deutschen Volkes, das Menschheitsvolk zu sein. Das Sacrum Imperium hatte keine Aussichten, wiederzuerstehen. Doch auch ein neues Reich bedurfte, wenn es dem Vergleich mit der Vergangenheit standhalten wollte, einer Art von Heiligung. An dieser arbeiteten die deutschen Nationalisten des frühen 19. Jahrhunderts. Sie „erfanden“ keine Traditionen, sondern verwandelten vorhandene. Vor allem säkularisierten sie, was sie an religiösen Gründen zugunsten einer deutschen Sendung vorfanden. Aus der Umschmelzung entstand, was wir den deutschen Nationalismus nennen.“ (s. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. I, München 2010, S. 67f.)

Die Realisierung des nationalstaatlichen Prinzips ist de facto zu einer der leitenden Ideen des 19. Jahrhunderts in Europa geworden. Griechenland erkämpfte nach zähem Ringen seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich. Die Souveränität wurde schließlich im Londoner Protokoll vom 3. Februar 1830 bestätigt. In demselben Jahr proklamierte auch Belgien seine Unabhängigkeit. Drei Jahrzehnte darauf ist am 17. März 1861 in Turin Viktor Emanuel II. zum König Italiens ausgerufen worden. Bis zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs sollten weitere zehn Jahre vergehen. Die in Osteuropa nach dem Ersten Weltkrieg aus den Trümmern der zaristischen, habsburgischen und osmanischen Monarchien schließlich entstehende Nationalstaats-Bewegung liegt außerhalb des hier diskutierten Zeitrahmens.

Aktuell mehren sich die Anzeichen in Europa und auch anderswo, die im Ergebnis in Multilateralismus und der Zusammenarbeit in internationalen Organisationen keinen besonderen Wert mehr erkennen wollen. Stattdessen predigen Populisten allenthalben die Rückbesinnung auf nationale Eigenart und vermeintliche Größe. Komplexe Probleme wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Natur werden gerne simplifiziert dargestellt. Alternative Fakten als Ausdrucksform einer vorsätzlich reduzierten Wirklichkeit machen die Runde. Vollends in den Chauvinismus abzugleiten, ist es nur noch ein kleiner Schritt. Wohin ein derart eingeschlagener Weg mit hinreichendem ideellen Ballast im Marschgepäck führen kann, haben die Schlafwandler im Sommer 1914 nachdrücklich gezeigt.

Säkularisierung und Wissenschaft

Demografischer Wandel und rasantes Bevölkerungswachstum in vielen Gegenden der Welt sind nicht nur Erscheinungen der Gegenwart, sondern auch des 19. Jahrhunderts. Binnen- und Auswanderung sind eine Antwort auf lokal nicht zufriedenstellende Lebensbedingungen gewesen, daneben ist eine zunehmende Verstädterung und Urbanisierung wahrzunehmen. Der Zuwachs in den Einwohnerzahlen zwischen 1700 und 1800 bei den heute fünf größten Städten des Landes zeigt es deutlich:

Jahr                                                                  1700                                     1800

Berlin                                                             30.000                                  172.000

Hamburg                                                       70.000                                  130.000

München                                                       24.000                                    40.000

Köln                                                                39.000                                    41.000

Frankfurt/Main                                           28.000                                    35.000

Eine Abnahme der Einwohnerzahl ist nirgendwo festzustellen, das Gegenteil ist der Fall. Der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler hat für Deutschland in den Grenzen von 1914 eine Gesamtzahl von rund 16 Millionen Einwohnern für 1700 und von 24,5 Millionen an der Wende zum 19. Jahrhundert einhundert Jahre später errechnet (s. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. I, München 1989, S. 69). Der Anstieg beträgt mehr als 50 Prozent. Zu dieser Zeit lebten in Russland etwa 38 Millionen Menschen, in Großbritannien ca. 11 Millionen und in Frankreich rund 27 Millionen.

Von der zunehmenden Säkularisierung ist zunächst die rechtlich-politische Bedeutung aufweisende Säkularisation zu unterscheiden, die mit der Revolution zunächst in Frankreich, mit den Napoleonischen Eroberungen darauf in den unterjochten – in anderer Sichtweise in den befreiten – Gebieten ins Werk gesetzt wurde. Damit gemeint ist die staatliche Einziehung oder Nutzung von aus Land oder Vermögen bestehendem Kirchenbesitz und die Aufhebung von kirchlichen Einrichtungen wie Abteien, Klöstern und Stiften. Für die deutschen Lande hat beispielsweise im Jahr 1803 Artikel 35 des Reichsdeputationshauptschlusses vorgesehen, dass derart aufgehobene Institute der Verfügungsgewalt des jeweiligen Landesherrn zu unterstellen waren.

Der geschichtsphilosophische Begriff Säkularisierung dagegen hat viel mit dem Aufstieg des Bürgertums im 19. Jahrhundert und dem in ihm gegründeten Fortschrittsdenken, den Glauben daran, dass durch vermehrtes Wissen in den Naturwissenschaften und Erfindungen technischer Art das Leben für die Menschheit besser würde, zu tun. Die zunehmende Entchristianisierung und Verweltlichung ist später vom Soziologen Max Weber in seinem 1922 gehaltenen Vortrag Wissenschaft als Beruf mit dem Thema der Rationalisierung in Verbindung gebracht und ausgeleuchtet worden: „Die zunehmende Intellektualisierung  und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“

Linearität in dem von Weber behaupteten Sinne gab es natürlich nicht, dafür waren die Erscheinungsformen zu vielfältig, wie die kleine Episode aus dem seinerzeit preußischen Rheinland belegt: „Am Rande der Kirchen und in unzähligen Nischen entwickelte sich eine reiche Vielfalt exzentrischer Abweichungen von der Norm, wo die Lehrsätze des genehmigten Dogmas nahtlos mit Formen des Volksglaubens, spekulativer Naturphilosophie und der Pseudowissenschaft vermischt wurden. Dies war das robuste Unkraut, das unablässig zwischen den Pflastersteinen der offiziellen Religion aus dem Boden schoss. Bis zu einem gewissen Grad profitierte es von den Energien, die durch die religiöse Erneuerung freigesetzt wurden. In katholischen dörflichen oder kleinstädtischen Gemeinden konnte die Wende hin zu Mysterien und wundersamen Elementen ohne Weiteres in Leichtgläubigkeit und Aberglauben umschlagen. Im Spätsommer 1822 kursierten Meldungen von einem „wundersamen Feuerschein“ über einem Marienbild in der kleinen, katholischen Kirche von Zons, einer Kleinstadt am Rhein zwischen Köln und Düsseldorf. Als die ersten Pilger in die Stadt strömten, führten die Kirchenbehörden in Köln und Aachen eine Untersuchung durch. Es stellte sich heraus, dass das Licht auf die Brechung der Sonnenstrahlen durch ein Kirchenfenster zurückzuführen sei.“ (s. Christopher Clark, Preußen, München 2007, S. 484f.)

Der „wundersame Feuerschein“ in der kleine Kirche von Zons steht in auffälligem Kontrast zu dem, was die Bürger von Göttingen elf Jahre später, im Frühsommer 1833, an der Turmspitze ihrer Johanniskirche mitten in der Stadt erblickten. Es handelte sich dabei um den metallisch aufblitzenden Strang einer Leitung, die hoch über den Dächern der Stadt, von dem Astronomen und Mathematiker Carl Friedrich Gauß und dem Physiker Wilhelm Weber aufgespannt worden war. Der elektromagnetische Telegraph war damit entdeckt und der uralte Menschheitstraum einer beschleunigten Nachrichtenübertragung verwirklicht worden.

Mit diesem Beitrag möchte ich eine Serie von Artikeln zur deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert eröffnen. Die Industrielle Revolution in Deutschland wird demnächst folgen!

 

 

 

 

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