Große und bedeutsame Zukunftsentwürfe einer von den Segnungen technischen und wissenschaftlichen Fortschritts begleiteten menschlichen Spezies haben gegenwärtig nicht gerade Hochkunjunktur. Die liberalen Befürworter einer zivilen Bürgergesellschaft, eingestandenermaßen westlichen Zuschnitts, die sich vor wenigen Jahrzehnten anschickten, mehr Demokratie zu wagen, sie sind kaum noch zu vernehmen oder gänzlich verstummt. Die Europäische Union verharrt in den Niederungen der von Bürokratie und Verwaltung bestimmten Alltagsarbeit und agiert weder kraftvoll noch kreativ genug, um visionäre Entwürfe einer besseren Zukunft überzeugend zu kommunizieren. Im Zeichen fortschreitender Globalisierung, die neben Gewinnern zweifelsohne Verlierer zurücklässt, gerät klare Orientierung bisweilen ins Wanken, wird Vertrauen leicht jenen politischen Navigatoren gewährt, die behaupten, einen klaren Kurs zu kennen.
Als wohlfeiler Trostspender fungiert dabei gerne die glorreiche Vergangenheit, möglichst die nationale eigene. Sie wird beispielsweise vom ehemaligen Londoner Bürgermeister und britischen Ex-Außenminister Boris Johnson, der 2014 mit der Biographie „The Churchill Factor“ auch als Schriftsteller hervorgetreten ist, bemüht. Der meinungsfreudige Konservative hat vor noch nicht allzu langer Zeit seine Landsleute dazu angehalten, sich als das zu präsentieren, was sie wären, nämlich die in vielerlei Hinsicht einflussreichste kulturelle und intellektuelle Kraft Europas. Das sich bei einem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs abzeichnende wirtschaftliche, politische und soziale Ungemach seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger würde Johnsons Verlautbarungen zufolge in Handelsvereinbarungen mit den Freunden aus dem Commonwealth mehr als aufgewogen werden. Die Segnungen des British Empire, in der zeitgemäßeren Variante des gut fünfzig Länder umfassenden Commonwealth, sie stünden nach wie vor bereit. Zwar ist diese Sichtweise berechtigterweise als kauziges Relikt des Imperialismus gebrandmarkt worden, sie findet gleichwohl ihre Pendants vereinfachter Adaptionen von Geschichte bei einer ganzen Reihe stetig an Zahl zunehmender politischer Repräsentanten der Gegenwart. In einer anderen Form eindimensionaler Vergangenheitsbetrachtung hat der aktuelle US-Präsident der darbenden und sich nach Jobs sehnenden heimischen Stahlarbeiterschaft während des vergangenen Präsidentschaftswahlkampfes zugesagt, es würde alles wieder werden, wie es früher einmal war. Aber hat es diese goldene Vergangenheit je gegeben?
In mehreren Interviews und Beiträgen hat Sir Christopher Munro Clark sinngemäß diese Eingangsthesen als Ausgangspunkt für sein neuestes im November 2018 im Verlag Deutsche Verlags-Anstalt in der Übersetzung von Norbert Juraschitz erschienenes Werk benannt. Es geht somit nicht um eine historische Ereigniskette wie die Vorgeschichte des 1. Weltkrieges, die Clark in seinem Bestseller Die Schlafwandler aus dem Jahr 2013 so meisterhaft und überzeugend zur Darstellung gebracht hat. In „Von Zeit und Macht“ lernen die Leserinnen und Leser Clark als Historiker kennen, der sich auch auf Geschichtstheorie versteht. In der Tradition der französischen Annales-Schule, als deren führende Vertreter Fernand Braudel und Jacques Le Goff gelten, und des deutschen Historikers Reinhart Koselleck unternimmt Clark den Versuch, unterschiedliche Möglichkeiten der Adaption von Vergangenheit, von Geschichte, anhand von vier Beispielen zu analysieren.
Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten
Zeitlich sind die untersuchten vier Beispiele dem 17., 18., 19. und 20. Jahrhundert zuzuordnen, räumlich dem deutschsprachigen Mitteleuropa. Dem Nachfolger von Richard J. Evans als Regius Professor of History an der Universität Cambridge zufolge, „sind Geschichtlichkeit (Historizität) und Zeitlichkeit (Temporalität) miteinander verknüpfte, aber nicht identische Kategorien. Im vorliegenden Buch bezeichnet letzterer Begriff das intuitive Gespür eines politischen Akteurs für die Struktur der erlebten Zeit. Wenn Geschichtlichkeit auf einer Reihe von Annahmen zum Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fußt, so erfasst Zeitlichkeit etwas, das weniger reflektiert und spontaner ist: ein Empfinden des Fortgangs der Zeit. Bewegt sich die Zukunft auf die Gegenwart zu oder entfernt sie sich von ihr? Droht die Vergangenheit, auf die Gegenwart Einfluss zu nehmen, oder fällt sie zurück an den Rand des Bewusstseins?… Wird die Gegenwart als Bewegung oder Stillstand empfunden? Was gilt als dauerhaft in den Köpfen derjenigen, die Macht ausüben, und was nicht?“ (s. S. 14)
Als beispielgebend für das 17. Jahrhundert fungiert Friedrich Wilhelm, Markgraf von Brandenburg und Herzog in Preußen, der gleichfalls Herrscher über weit verstreute Territorien etwa am Niederrhein war. Sein Regierungshandeln und die damit verbundene Herrschaftsausübung trugen ihm den Beinamen Großer Kurfürst ein und stehen für die Anfänge der europäischen Großmachtstellung von Brandenburg-Preußen. Welche Art von Umgang mit Vergangenheit, die sich nicht nur, aber stets auch aus Traditionen und altem Herkommen speiste, Gegenwart und Zukunft kann bei ihm, der mitten in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges 1640 an die Macht kam, die er bis 1688 innehaben sollte, festgestellt werden?
Friedrich Wilhelm wagte in dieser Situation insoweit den Bruch mit der Vergangenheit, um den An- und Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft besser begegnen zu können, als dass er den Konflikt mit den mächtigen, sich vorzugsweise aus dem Landadel rekrutierenden Ständen in seinen Provinzen nicht scheute. Um seitens des Herrschers für notwendig erachtete militärische Aufrüstung sachgerechter Sorge tragen zu können, entspann sich laut Clark folgender Handlungsrahmen: „Die Stände vertraten ihre Sache mit dem Verweis auf die Kontinuität mit der Vergangenheit. Vom Kurfürsten und seinen Beamten mit Forderungen nach Geld und anderen Ressourcen konfrontiert, beharrten die Stände auf Beibehaltung und feierlicher Respektierung ihrer „speziellen und besonderen Privilegien, Freiheiten, Verträge,… alten Traditionen, Gesetz und Gerechtigkeit“. Die Interventionen des Fürsten waren deshalb unrechtmäßig, weil sie Neuerungen waren. Sie stellten einen Bruch mit der früheren Praxis dar. Die „traditionellen“ Privilegien, Rechte, Freiheiten und so weiter waren genau deshalb legitim, weil sie alt waren.“ (s. S. 42) Der Freiheit der Stände stand mithin die Notwendigkeit der Zentralgewalt entgegen.
Das linear in die Zukunft gerichtete Fortschrittsdenken Friedrich Wilhelms kontrastiert während des Regierungszeit Friedrich II., bekanntermaßen ebenfalls mit dem Beinamen der Große versehen, im 18. Jahrhundert mit einer Auffassung, die zyklisch zu nennen ist. Deutlich wird sie etwa an der Sammelleidenschaft des Preußenkönigs für die traumähnlichen Landschaftsbilder Antoine Watteaus. Bei Christopher Clark ist zu erfahren: „Besonders bemerkenswert ist die Intensität, mit der sich Friedrich mit diesen Gemälden identifizierte, seine Neigung, sowohl sich selbst in ihre zeitlosen Landschaften zu projizieren als auch sich sein eigenes Dasein gemalt mit Watteaus Pinselstrich vorzustellen, als habe der Maler nicht einfach nur eine spezielle Ikonographie erfasst, sondern eine verwandte Form des Bewusstseins heraufbeschworen. Watteaus Gemäldes zerteilten die Zeit in schwebende Momente, losgelöst von der jüngsten Vergangenheit und der unmittelbaren Zukunft.“ (s. S. 120) Damit werden dem mit der britischen Krone in den Jahren des Siebenjährigen Krieges kontinentaleuropäischen Verbündeten mitnichten die Fähigkeiten und Möglichkeiten zu dynamischer Aktion und Handlungsweise abgesprochen. Dennoch zeichnen sich nach Meinung des Autors signifikante Unterschiede im historischen Bewusstsein gegenüber dem Großen Kurfürsten ab.
Bei Otto von Bismarck, dem schon von Zeitgenossen metaphorisch überhöhten Lotsen und Steuermann europäischer Politik des 19. Jahrhunderts, demjenigen, der im Schachspiel so viele Analogien zu seinem täglichen Tun erkannte, worüber Christopher Clark im Unterkapitel Der Schachspieler innerhalb der Seiten 137 bis 145 anschaulich unterrichtet, wiederum ein anderer Befund. Seine persönliche, sehr spezielle Einstellung gegenüber Zeit und Zeitlichkeit erfährt darin den treffendsten Ausdruck, „indem Bismarck seine Narrative und sein Selbstverständnis auf diese Art strukturierte, brachte er ein Zeitempfinden zum Ausdruck, das von der Überlegenheit des Augenblicks als empirischer und hermeneutischer Kategorie geprägt war.“ (s. S. 165) Oder um es anders zu formulieren: „Am Ende seiner Politikerlaufbahn war Bismarck dazu übergegangen, seine Karriere als eine Kette epochemachender Momente der Entscheidung zu betrachten – und der betagte Monarch, der so viele davon mit ihm geteilt hatte, stimmte ihm eindeutig zu.“ (s. S. 168)
Fazit
Im Unterschied zu früheren Arbeiten bewegt sich Christopher Clark in seinem neuesten Werk im Grenzbereich dessen, was historische Wahrnehmung und historische Erkenntnis an belastbaren Beobachtungen erlauben. Doch warum hätte der profunde Kenner preußisch/deutscher Geschichte, ein Meister der Materie, schwieriges Terrain scheuen sollen? So verdanken Leserinnen und Leser innerhalb des vierten der Zeit des Nationalsozialismus gewidmeten Kapitels die Einsicht des Autors, dass ein Motiv für die Vorliebe und Wertschätzung der germanischen Vor- und Frühgeschichte seinerzeit darin bestand, damit die jüngste politische Geschichte Weimars in weite Ferne rücken zu können (s. S. 212) Den Blick für Verzerrungen der Vergangenheit in unserer Gegenwart zu schärfen, darin liegt wohl das größte Verdienst der Arbeit Christopher Clarks in „Von Zeit und Macht“.